Für Meinungsfreiheit und die Freiheit des Wortes – 68. Frankfurter Buchmesse eröffnet mit ein wenig royalem Glanz

Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments eröffnet die Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments eröffnet die Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

 

Mit einem Appell zur Meinungsfreiheit „Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht!“ und mit eindringlichen Warnungen gegen erstarkende Nationalismen und Intoleranz in Europa wurde am Dienstag die 68. Frankfurter Buchmesse feierlich eröffnet. Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, rief leidenschaftlich den über 1000 Gästen zu: „Es gilt, unser europäisches Gesellschaftmodell gegen die Feinde der Freiheit zu verteidigen“, und dabei könne das Lesen  eine große Hilfe sein,  so Martin Schulz, der durch Lesen einst seinen Weg fand. „Das Lesen hat mich einst gerettet“ sagte er. Nach abgebrochener Ausbildung machte er schließlich eine Buchhändlerlehre, später hatte er selbst einen kleinen Buchladen im Aachener Raum, bevor seine steile politische Karriere begann. „Ein Volk, welches liest,“ so Schulz, „wird nicht gewalttätig!“.
Schulz forderte einen „Aufstand der Anständigen“ gegen den wachsenden Populismus in Europa. Börsenvorsteher Heinrich Riethmüller rief die Besucher der Buchmesse auf, gemeinsam gegen Meinungs- und Redefreiheit aufzustehen.

v.l.n.r. Ihre Majestäten Paola und Philippe von Belgien, Willem von Niederlanden. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
v.l.n.r. Ihre Majestäten Mathilde und Philippe von Belgien, Willem von Niederlanden. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Für  royalen Glanz sorgten Ihre Majestäten Philippe von Belgien nebst Gattin Mathilde und Willem-Alexander der Niederlade zum Auftakt der Eröffnungsveranstaltung. Anschließend oblag es der Delegation den Ehrengast-Pavillon  „Flandern und Niederlande“ im Forum Buchmesse zu eröffnen.

 

Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch

Jürgen Boos Direktor der Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Jürgen Boos Direktor der Frankfurter Buchmesse. Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

Juergen Boos, Direktor der Buchmesse, hatte den Reden-Reigen eröffnet. In  seiner Begrüßung  unterstrich er die Perspektivenvielfalt, die „unsere Kultur beflügele“. Er sei schon sehr zuversichtlich, „dass uns Goethe durch fremde Kultureinflüsse nicht abhanden käme“. Kulturelle Reinheit sei ein Widerspruch an sich. Es gelte die Dinge immer wieder neu zusammenzustellen und neu zu sehen, wozu Juergen Boos David Hockneys Bildcollagen aus den 80er Jahren heranzog: „Wir haben dieses Jahr den großen Maler David Hockney auf der Buchmesse. In den 80er Jahren fotografierte David Hockney Polaroids unterschiedliche Situationen aus mehreren Perspektiven heraus, und klebte diese Polaroids aneinander. Es entstanden traumhafte Bilder, die durch ihre Perspektivenvielfalt die Sicht auf die Dinge erweitern: Von den vielen Menschen, die in den letzten Monaten zu uns ins Land gekommen sind, erwarten wir, wenn sie es denn hierher geschafft haben, dass sie sich integrieren, dass sie sich unauffällig und nahtlos in unsere Kultur einfügen, und diese ansonsten unberührt lassen. Diesen einbetonierten behaupteten kulturellen Status Quo begegnen wir leider zurzeit an vielen Orten der Welt. Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch an sich, da Kulturen schon immer durch Vermischungen entstanden sind, und Kreativität durch irritierende Unterschiede und in der Überraschung des Neuen gedeiht. Das Mir gefällt an Collagen, dass man erst einmal losziehen muss, um verschiedene Situationen, Gedanken und Bilder einzusammeln, die später ein neues Bild ergeben. Danach fängt man an, die einzelnen Elemente aneinanderzulegen, und probiert aus, wie sich Dinge zu einer neuen Idee zusammenfügen lassen. Interessant sind aber die Schnittstellen, an denen die Dinge sich überlappen, sie übereinanderliegen oder eben dort, wo sich Lücken auftun, die an unser Denken appellieren, sie mich Neuem zu füllen.

Statt unser viel zu kurzes Leben mit „unveränderlichen Wahrheiten“ zu verstopfen und sie mit unendlicher Energie und Autorität zu verteidigen, sollten Menschen stattdessen besser verstehen lernen, woher die anderen Menschen kommen, und was sie antreibt. „Ich finde es angebracht, wenn wir erst einmal zu hören, wenn wir sprechen und in unseren Köpfen gedankliche Collagen auf den Schnittstellen zusammenbauen. Das ist die Substanz von Literatur: Für mich ist es nicht nur ein friedlicher Weg, sondern ein kreativer. Ich bin zuversichtlich, dass uns Goethe schon nicht abhandenkommen wird. Und sie ahnen, dass es das ist, was auf dieser Woche hier in Frankfurt passieren soll.“ Er wünschte eine friedliche, vor allem perspektivenreiche Woche.

Eröffnungsrede von Vorsteher Heinrich Riethmüller

Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow
Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.Foto: Diether v. Goddenthow © atelier-goddenthow

„Dit is wat we delen“ – Dies ist, was wir teilen – unter diesem Motto steht der Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse. Das gilt nicht nur für Flandern und die Niederlande, sondern wir alle müs-sen uns fragen: Was teilen wir? Als Mitglieder der Kultur- und Kreativbranche, als Bürger Europas, als Menschen? Und was werden wir in Zukunft teilen?

Zur Eröffnung der 68. Frankfurter Buchmesse begrüße ich Sie im Namen der im Börsenverein des Deutschen Buchhandels versammelten Verleger und Buchhändler sehr herzlich. Fünf Tage lang ste-hen auf der weltweit größten Buchmesse wieder Bücher, Inhalte und Ideen im Mittelpunkt. Kein anderer Ort der Welt bietet so viel Raum für Gespräche, Diskussionen und den Erfahrungsaustausch zwischen Verlegern, Buchhändlern und Medienmachern aus der ganzen Welt.

Besonders freue ich mich, die Vertreterinnen und Vertreter des Ehrengastes Flandern und die Niederlande zu begrüßen. Flandern und die Niederlande sind gemeinsam zu Gast in Frankfurt, weil sie vieles verbindet. Und dieses Verbindende stellen sie in den Vordergrund: die niederländische Sprache, eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Literatur. Das, was die beiden Regionen trennt – politische Systeme, Mentalitäten und Sprachunterschiede – tritt in den Hintergrund. Das spiegelt sich im Motto ihres Auftritts wider: „Dies ist, was wir teilen“.

Teilen – das steht für das, was uns Menschen verbindet, was uns eint. Menschen teilen Werte, Ein-stellungen und Ziele – Hoffnungen, Ängste und Wünsche. Teilen heißt auch, jemandem etwas abzu-geben von unseren Gedanken und Gütern. Wer teilt, ist mit anderen Menschen in Kontakt. Teilen steht für Dialog, Austausch und Verständigung.

Wenn man das Weltgeschehen betrachtet, kann man zunehmend den Eindruck gewinnen, dass das, was uns Menschen verbindet, überlagert wird von dem, was uns trennt. An die Stelle des Teilens, der Verbundenheit, des Dialogs tritt das Spaltende, der Dissens, die Konfrontation. An alten und neuen Fronten schwelen Konflikte und zeigen sich Spannungen. Viele Gräben, geografische und ideologi-sche, existieren schon so lange, dass sie unüberbrückbar scheinen. Auch in unserer Gesellschaft drif-tet etwas auseinander. Die europäische Idee bröckelt, Themen wie die Flüchtlingsdebatte spalten die Bevölkerung und die Staaten in Europa. Was mich bei alldem beunruhigt, ist, dass der Dialog immer schwieriger wird. Und das schafft den Nährboden für Hass und Gewalt.

Wie lässt sich dieser Entwicklung entgegentreten? Unsere diesjährige Friedenspreisträgerin Carolin Emcke sagt: „Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seine Einladung, sich ihm anzuverwan-deln, ausschlägt. Es gilt zu mobilisieren, was dem Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel.“

Mit diesen Worten spricht Carolin Emcke uns alle an. Die Mittel gegen den Hass, die sie aufführt, zäh-len zu unseren ureigenen Aufgaben als Ideen- und Inhaltsvermittler. Wir können, ja müssen hinter-fragen und kritische Distanz einfordern. Wir können und müssen einfachen Wahrheiten und Verein-heitlichung differenzierte Erklärungen und Vielfalt entgegenhalten. Bücher und Medien teilen – sie verbreiten Wissen, Geschichten und Erfahrungen. Bücher bauen Brücken.

Wir alle – Autoren, Verleger, Buchhändler, Übersetzer und alle anderen, die die Kultur- und Kreativ-branche mitgestalten – wir teilen etwas sehr Wichtiges: Wir können Verständigung und Dialog er-möglichen. Wir bieten Meinungen und Ideen eine Plattform. Wir gestalten den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess mit. Nie waren Buchmenschen und Kulturschaffende wichtiger als heute.

Vor diesem Hintergrund ist es umso unverständlicher, dass die Gesetzgebung der Buchbranche der-zeit so viele Steine in den Weg legt. Eine Vielzahl geplanter Reformen gefährdet die deutsche Ver-lagslandschaft in ihrer Qualität und Vielfalt und damit ihren gesellschaftlichen Auftrag.

Noch viel dramatischer ist es, wenn die Publikations- und Meinungsfreiheit eingegrenzt wird, wenn Autoren, Verlage und Buchhandlungen nicht mehr das schreiben, publizieren und verbreiten dürfen, was sie für richtig und wichtig erachten. Die Freiheit des Wortes wird in vielen Teilen der Welt angegriffen. Unbequeme Autorinnen und Autoren, Journalistinnen und Journalisten werden unter Druck gesetzt oder mundtot gemacht. Zeitungen, Verlage und Buchhandlungen, die nicht der politischen Linie folgen, werden geschlossen oder enteignet.

Besonders betroffen macht uns aktuell die Situation in der Türkei. Ein demokratisches Land an der Schwelle zu Europa ist in den vergangenen Monaten in extreme Schieflage geraten. Seit dem Putsch-versuch im Juli hat sich die bereits angespannte Lage für Kultur- und Medienschaffende verschärft. Regierungskritische Autoren, Journalisten und Verleger werden massiv drangsaliert und verfolgt. Mindestens 140 Medienhäuser wurden geschlossen, darunter 30 Buchverlage, auch Kinderbuchverla-ge. Mehr als 130 Autoren und Journalisten sitzen momentan in türkischen Gefängnissen.

Gemeinsam mit dem PEN-Zentrum Deutschland und Reporter ohne Grenzen haben wir deshalb die Petition „FreeWordsTurkey“ gestartet. Darin fordern wir die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit in ihren Entscheidungen, Handlungen und Äu-ßerungen kompromisslos einzufordern und sie nicht zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Die Freiheit des Wortes ist ein Menschenrecht und nicht verhandelbar. Über 80.000 Menschen haben die Petition bereits unterzeichnet. Doch die Politik schweigt weiter.

Freiheitliche und demokratische Werte werden Nützlichkeitserwägungen geopfert, etwa im Gegenzug dafür, dass die Türkei für uns den Flüchtlingszuzug regelt oder dass Truppenstützpunkte erhalten bleiben. In dem Moment, in dem wir hier feierlich die Buchmesse eröffnen, sitzen Kolleginnen und Kollegen von uns im Gefängnis. Ihr Verbrechen besteht darin, dass sie ihren Beruf ausgeübt und ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen haben.

Einer von ihnen möchte ich heute exemplarisch eine Stimme verleihen. Vor genau acht Jahren war sie hier, auf der Frankfurter Buchmesse. Die Türkei war damals Ehrengast. Heute kann sie nicht hier sein. Denn Aslı Erdoğan befindet sich seit 70 Tagen in Haft. Die 49-jährige Autorin und Journalistin wurde am 16. August in ihrer Wohnung festgenommen, am selben Tag wie 20 andere Journalisten und Angestellte der Zeitung „Özgur Gündem“. Aslı Erdoğan schrieb Kolumnen für die pro-kurdische Tageszeitung und saß in ihrem Beirat. Sie ist Autorin von sieben Romanen, die in 15 Sprachen über-setzt wurden, und Mitglied im türkischen PEN. Als Kolumnistin prangerte sie das Vorgehen des türki-schen Staates gegen Kurden an, machte Folter und Gewalt gegen Frauen zum Thema und kritisierte die Bedingungen in türkischen Gefängnissen.

Nun sitzt sie selbst im Gefängnis, in einer Zelle zusammen mit 21 Frauen. Aber jemand wie Aslı Erdoğan schweigt nicht, auch nicht in einer solchen Situation. Aus dem Bakirköy Gefängnis in Istan-bul konnte sie eine Botschaft schmuggeln, die sie heute, zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2016, an uns richten möchte. Ihre Worte möchte ich Ihnen vortragen:

„Aus einem Istanbuler Gefängnis, einem Frauengefängnis zwischen einer Psychiatrie und einem ehemaligen Lepra-Krankenhaus, rufe ich heraus zu euch Literaten. Hinter Steinen, Beton und Sta-cheldraht rufe ich – wie aus einem Brunnenschacht – zu euch: Hier, in meinem Land, lässt man mit einer unvorstellbaren Rohheit das Gewissen verkommen. Dabei wird gewohnheitsmäßig und wie blind versucht, die Wahrheit zu töten. Auch wenn ich nicht weiß wie, aber die Literatur hat es immer geschafft, Diktatoren zu überwinden. Die Literatur, die wir mit unserem eigenen Blut schreiben, denn diese ist für mich die Wahrheit. Herzliche Grüße, Aslı Erdoğan“

„Dies ist, was wir teilen“ – Wir teilen mit Aslı Erdoğan ihren Eifer für Freiheit und Gerechtigkeit und ihren Glauben an die ungeheure Macht, die Sprengkraft der Literatur. Und ich rufe uns auch dazu auf, ihr Leid zu teilen und Solidarität zu zeigen – mit ihr und den Tausenden von Journalisten und Kulturschaffenden weltweit, die verfolgt werden, weil sie das sagen, was sie meinen. Wir fordern die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, alles dafür zu tun, dass Menschen wie Aslı Erdoğan wieder in Freiheit leben und ohne Angst um die nackte Existenz ihre Gedanken mit uns teilen kön-nen.

Stellvertretend für alle Verfolgten und Inhaftieren will ich Aslı Erdoğan antworten: Hoffen Sie weiter, kämpfen Sie, geben Sie nicht auf! Wir stehen an Ihrer Seite! Lassen Sie sich nicht ihre Hoffnung und ihre Worte rauben.

Autoren, Verlage, Buchhandlungen, wir alle hier im Saal: Auch wir dürfen die Hoffnung und die Wor-te nicht verlieren. Wir haben die Kraft, den Dialog zu ermöglichen, dem Trennenden das Verbinden-de entgegenzuhalten, Ketten zu sprengen, Mauern einzureißen.

Machen wir uns bewusst, was wir teilen. Wir schaffen gemeinsam einen starken Buchmarkt. Wir können Toleranz fördern und eine freie und lebenswerte Gesellschaft mitgestalten. Machen wir da-von Gebrauch!