(v.li.:) Raphaela Edelbauer, Norbert Scheuer, Tonio Schachinger, Jackie Thomae, Saša Stanišić und Miku Sophie Kühmel ©  Foto: Diether  v Goddenthow
(v.li.:) Raphaela Edelbauer, Norbert Scheuer, Tonio Schachinger, Jackie Thomae, Saša Stanišić und Miku Sophie Kühmel © Foto: Diether v Goddenthow

Mit über 700 Besuchern war der 11. Shortlist-Abend am 29.09.2019 im Vorfeld des Deutschen Buchpreises im Oktober ein großer Erfolg. Eingeladen hatten das Kulturamt Frankfurt am Main, das Literaturhaus Frankfurt und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels.

Ausverkauft: Das Schauspiel Frankfurt ist am Shortlist-Abend bis auf den letzten Platz besetzt. ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Ausverkauft: Das Schauspiel Frankfurt ist am Shortlist-Abend bis auf den letzten Platz besetzt. © Foto: Diether v Goddenthow

Bereits kurz nach Bekanntgabe des Termins sei der „Shortlist-Abend“  ausverkauft gewesen, verriet Sonja Vandenrath, Leiterin des städtischen Literaturreferats bei ihrer Begrüßung. Das zeige, dass die große Wirkung, die der deutsche Buchpreis entfalte, ungebrochen sei, ebenso die Kontinuität des Interesses an aktueller deutschsprachiger Literatur, so Vandenrath.

Sonja Vandenrath, Leiterin des städtischen Literaturreferats ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Sonja Vandenrath, Leiterin des städtischen Literaturreferats © Foto: Diether v Goddenthow

Die Jury habe sechs Titel – darunter drei Debüts jüngerer Autor/innen – aus der Flut der Neuerscheinungen ausgewählt, um sie dem Publikum besonders anzuempfehlen. In diesem Jahr sind das überwiegend Romane, „in denen dezidiert die aktuellen Ausverhandlungsprozesse unserer gesellschaftlichen Miseren zählen“, beispielsweise Themen wie: Landleben, Herkunft, Beziehungen usw., die auch insbesondere Leser /innen unter 30 ansprächen.

Benno Henning von Lange vom Frankfurter Literaturhaus, erläuterte, dass zwei wichtige Menschen, die sonst jedes Jahre an der Veranstaltung beteiligt sind, fehlten, da sie der Jury des Deutschen Buchpreises angehören: Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, und Alf Mentzer, Leiter der Literaturredaktion von hr2-kultur und Moderator vieler Shortlist-Veranstaltungen. Denn die letzte Entscheidung, wer den Deutschen Buchpreis am 14. Oktober, am Montag vor der Buchmesse, im Kaisersaal des Frankfurter Römers erhalte, sei noch nicht gefallen. Die Autoren der Shortlist erhalten ein Preisgeld von jeweils 2.500 Euro, der Deutsche Buchpreis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Benno Henning von Lange, Frankfurter Literaturhaus.©  Foto: Diether  v Goddenthow
Benno Henning von Lange, Frankfurter Literaturhaus.© Foto: Diether v Goddenthow

Die Shortlist sei gewissermaßen ein Konzentrat dessen, wie unterschiedlich, wie neu und vielfältig Gegenwartsliteratur sein könne. Die Titel stünden funkelnd und strahlend für die vielen. Sie seien eigenständige Ausdrücke unserer Lebenswirklichkeiten- und –möglichkeiten, unserer Träume, Schwierigkeiten und Wünsche und unseres Verdrängten, sagte von Lange. Das mache diesen Abend immer wieder so ungemein interessant und die Vielfalt, Gesellschaftliches und Literarisches begreiflich und hörbar.

Das flüssige Land von Raphaela Edelbauer

Maike Albath, freie Kritikerin (rechts) im Interview mit Raphaela Edelbauer über ihren Debütroman Das flüssige Land.©  Foto: Diether  v Goddenthow
Maike Albath, freie Kritikerin (rechts) im Interview mit Raphaela Edelbauer über ihren Debütroman Das flüssige Land.© Foto: Diether v Goddenthow

Als erste Kandidatin interviewte Maike Albath, freie Kritikerin, Raphaela Edelbauer über ihren Debütroman Das flüssige Land, erschienen bei Klett-Cotta. Die Autorin liebt es mit Idyllen, historischen Hintergründen, physikalischen Theorien á la Blockuniversum, und mythischen Vorstellung wie „Traumzeit“ usw. zu spielen. Sie könne sich damit diese Zeitlosigkeit und Überrealitäten zurechtschustern, beispielsweise eine kafkaeske Topografie, mit dem Ort namens „Groß-Einland“, der auf keiner Karte verzeichnet ist und aus dem keine Straße herausführt, ein beispielloses Labyrinth, in dem die Geschichte der Wiener Pysikerin Ruth spielt, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern vor ein nahezu unlösbares Paradox gestellt wurde. Denn ihre Eltern haben verfügt, im Ort ihrer Kindheit begraben zu werden, doch Groß-Einland verbirgt sich beharrlich vor den Blicken Fremder. Als Ruth endlich dort eintrifft, macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum, ein Loch, der das Leben der Bewohner von Groß-Einland auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint. Überall finden sich versteckte Hinweise auf das Loch und seine wechselhafte Historie, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist. Vielleicht wird das Schweigen von einer immer noch einflussreichen alten Gräfin der Gemeinde gesteuert? Und welche Rolle spielt eigentlich Ruths eigene Familiengeschichte? Je stärker sie in die Verwicklungen Groß-Einlands zur Zeit des Nationalsozialismus dringt, desto vehementer bekommt Ruth den Widerstand der Bewohner zu spüren. Doch sie gräbt tiefer und ahnt bald, dass die geheimnisvollen Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind.

Raphaela Edelbauer ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Raphaela Edelbauer © Foto: Diether v Goddenthow

Kommentar der Jury: „Das flüssige Land“ ist ein ebenso eindrückliches wie fantas¬tisches Debüt – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Roman führt in eine kafkaeske Topografie, in einen Ort namens Groß-Einland, der auf keiner Karte verzeichnet ist und aus dem keine Straße herausführt. Er wird von einem gigantischen, sich ständig ausdehnenden Abgrund unterhöhlt – was dazu führt, dass in dieser Welt alles ins Rutschen gerät: Gebäude, Menschen, aber auch jedes Raum- und Zeitbewusstsein. Raphaela Edelbauer schafft eine Art Super-Metapher, die auf virtuose Weise die phy¬sikalische, die psychische, die historische und auch die sprachliche Welt in ihren Abgründigkeiten verbindet. Das ist unheimlich, das ist spannend, das ist aberwitzig und kaum zu fassen – eben einfach fantastische Literatur.

Biografie:
Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, wuchs im nieder¬österreichischen Hinterbrühl auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk „Entdecker. Eine Poetik“ mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den Publikumspreis.

 

Winterbienen von Norbert Scheuer

Norbert-Scheuer. ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Norbert-Scheuer. © Foto: Diether v Goddenthow

Das zweite Gespräch führte der Kritiker Christoph Schröder mit Norbert Scheuer über dessen achten, in der Eifel spielenden Roman Winterbienen, erschienen im C. H. Beck Verlag. Kall in der Eifel sei ein Ort ohne Café, nur mit einem Supermarkt in dem sich die alten Männer des Ortes immer träfen. Und eines Tages hätten ihm diese Grauköpfe eine Aktentasche mit Unterlagen eines Imkers aus dem Jahre 1944/45 übergeben. Doch etwas aus dem Stoff zu machen, habe die Notiz des Imkers ausgelöst: „Die Bienen fliegen aus, und die Feindflugzeuge kommen“. Ich hatte plötzlich ein Bild vor Augen, und das bin ich nicht mehr losgeworden, da musste ich der Sache nachgehen. Der Roman spielt in einem kleinen Bergarbeiter Ort nahe Belgien. Im Krieg verdingten sich dort zahlreiche Eifler Bauern als Fluchthelfer. Gegen Bezahlung von 200 /300 Reichsmark halfen sie jüdischen Flüchtlingen über die Grenze. Es ist die Zeit, in der amerikanische Bomber bereits über diese Gegend kreisen. Der Hauptprotagonist, der wegen seiner Epilepsie nicht wehrtaugliche Egidius Arimond, gerät in höchste Gefahr. Er bringt nicht nur als Fluchthelfer jüdische Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die Grenze, er verstrickt sich auch in Frauengeschichten. Und nur seinem als Jagdflieger-Pilot hochdekoriertem Bruder verdankt er es, dass ihn die Nazis in Ruhe lassen. Mit großer Intensität erzählt Norbert Scheuer in „Winterbienen“ einfühlsam, präzise und spannend von einer Welt, die geprägt ist von Zerstörung und dem Wunsch nach einer friedlichen Zukunft.

Kritiker Christoph Schröder mit Norbert Scheuer  bei der Lesung aus Winterbienen.©  Foto: Diether  v Goddenthow
Kritiker Christoph Schröder mit Norbert Scheuer bei der Lesung aus Winterbienen.© Foto: Diether v Goddenthow

Kommentar der Jury: „Ein autobiographischer Roman über die Frage unserer Zeit, eine Selbstbefragung in Fragmenten und Arabesken: über Geschenk und Bürde der Herkunft, über das Finden einer neuen Spra¬che, mit einem Kern, „hart wie der einer Pflaume“, und über das Werden eines Schriftstellers. Auf verschlungenen Wegen führt „Herkunft“ uns nach Višegrad, Bosnien, in das Dorf der Großeltern und nach Heidelberg, wo der Halbwüchsige als Kriegsflüchtling landete. Verschmitzt und behände bleibt der Erzähler stets auf der Hut vor sich selber, mit Klugheit, Humor und Sprachwitz, ohne „Zugehörigkeitskitsch“ und Opferpa¬thos. Sein berückendes Vergnügen am Erzählen macht die bleischweren Themen federleicht – Wundbehandlung mit den Mitteln der Literatur.“

Biografie:
Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane „Die Sprache der Vögel“ (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, und „Am Grund des Univer¬sums“ (2017). Sein Roman „Überm Rauschen“ (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 „Buch für die Stadt Köln“.

Kintsugi von Miku Sophie Kühmel

Anna Engel, Redakteurin von hr2-kultur  mit Miku Sophie Kühmel über ihr Romandebüt Kintsugi. ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Anna Engel, Redakteurin von hr2-kultur mit Miku Sophie Kühmel über ihr Romandebüt Kintsugi. © Foto: Diether v Goddenthow

Die jüngste Shortlist-Autorin des Abends, Miku Sophie Kühmel, befragte Anna Engel, Redakteurin von hr2-kultur zu ihrem Romandebüt Kintsugi, erschienen bei S. Fischer. In ihrem Roman geht es vielmehr um die Beziehung zwischen den Menschen und weniger um die Person im Einzelnen. Es geht um die Beziehung von vier Menschen, die in einem Haus am See, weit ab vom Trubel des Alltags, ein ruhiges Wochenende planen. Doch bald stellt sich heraus, dass ruhig nur die See bleibt. Reik und Max, die ihre junge Liebe endlich mal richtig feiern wollen, haben nur noch den ältesten Freund Tonio und seine Tochter Pega eingeladen, die so alt ist wie die Beziehung von Max und Reik. Doch bald zeigen sich Risse, und die Liebe in all ihren Facetten. Über den Trost, den wir im Unvollkommenen finden. Und darüber, dass es weitergeht. Wie immer geht es weiter, wobei Kintsugi eine Metapher sei, wie man mit Scherben umgehen könne. Denn Kintsugi sei eine japanische Technik, Scherben zu kitten, indem man der Klebemasse Goldstaub beimengt, und somit die „Nähte“ herausstelle. Beim Schreiben seien der Autorin die Personen sehr nahe gekommen, und sie glaube, dass sie all ihre Neurosen gut auf die Personen verteilt habe.

Miku Sophie Kühmel  © Foto: Diether  v.Goddenthow
Miku Sophie Kühmel © Foto: Diether v.Goddenthow

Kommentar der Jury: „Kintsugi“ ist ein psychologisches Kammerstück, ein Ensembleroman auf märkischem Sand. Vier Menschen, drei Männer und eine junge Frau kommen für ein Wochenende auf einem Land¬haus zusammen. Und sie erzählen jeweils mit eigener Stimme und Perspektive. Das Liebespaar Max und Reik, der bisexuelle Tonio und Pega verhalten sich zueinander wie jene Porzellanscherben, die durch die japanische Kunsthandwerkstechnik Kintsugi mit Gold in ihren Zusammenhalt gekittet werden: belebende Risse und Schönheit des Makels. Ein äußerst gegenwärtiger Roman von hohem Lesevergnügen, der nach heutigen Liebes- und Lebenskonzepten fragt, nach Elternschaft, Sexualität, Erfolg, Karriere und Bindungen.

Biografie: Miku Sophie Kühmel, geboren 1992 in Gotha und dort aufgewachsen. In Berlin und New York studierte sie Literatur, unter anderem bei Roger Willemsen und Daniel Kehlmann. Heute ist sie als Autorin und Podcast-Produzentin rund um das gesprochene und geschriebene Wort tätig. Seit 2013 erscheint ihre Kurzprosa regelmäßig in Zeitschriften und Anthologien. 2018 stand ihr Manuskript „Fellwechsel“ auf der Shortlist für den Blogbuster- Romanpreis. „Kintsugi“ ist ihr erster Roman.

Nicht wie ihr von Tonio Schachinger

Tonio-Schachinger. ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Tonio-Schachinger. © Foto: Diether v Goddenthow

Mit dem ersten Satz aus Tonio Schachinger Buch „Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt.“ beginnt Christoph Schröder das Interview mit Jungautor  über sein Romandebüt Nicht wie ihr, erschienen im Verlag Kremayr & Scheriau. Vor dem Hintergrund seines Romans wühlt der Autor dabei im abgrundtiefen Morast des Profi-Fußballs, in dem Vereine inzwischen  zu mächtigen Konzernen geworden sind,  Fußballer einander nicht grün, und selbst in der Kreis-Liga untereinander häufig nur noch hinter vorgehaltener Hand sprechen, da nichts nach draußen dringen soll. Schachinger bedient sich mehrerer Sprachebenen, um die rotzige Sprache der Spieler von der witzigen Wiener Milieusprache und der originellen literarischen Sprache abzugrenzen. Die Hauptfigur Ivo, Fußballprofi, wusste immer schon, dass er besonders ist. Die Leser werden in Ivos narzisstische Gedankenwelt mitgenommen und von ihr gefesselt wie abgestoßen. Besonders cool, besonders talentiert, besonders attraktiv. Alle wussten es, seine Familie, seine Jugendtrainer, seine Freunde im Käfig. Jetzt ist er einer der bestbezahlten Fußballer der Welt. Er verdient 100.000 Euro in der Woche, fährt einen Bugatti, hat eine Ehefrau und zwei Kinder, die er über alles liebt. Doch als seine Jugendliebe Mirna ins Spiel kommt, gerät das sichere Gerüst ins Wanken. Wie koordiniert man eine Affäre, wenn man eigentlich keine Freizeit hat? Lässt Ivos Leistung auf dem Spielfeld nach? Und was macht eigentlich seine Frau, während er nicht da ist?

Kommentar der Jury: Das einzige, das Ivo immer gut konnte, war Fußballspielen und nun spielt er, der in Wien immer nur einer der vielen „Jugos“ war, in Everton, verdient 100.000 Euro die Woche, ist mit einer schönen Frau verheiratet, hat zwei entzückende Kinder und teilt mit uns seine Sicht auf die Welt: liebenswert und überheblich, naiv und berechnend, charmant und bitterböse. Doch „Nicht wie ihr“ ist viel mehr als ein Roman über die Welt des Spitzensports: Zugehörigkeit, Migration, die ständige Angst vor dem Abstieg, Männlichkeitsideale und nicht zuletzt Liebe werden hier zwi¬schen Fußballrasen, Umkleidekabinen, Luxushäusern und teuren Autos völlig unverkrampft verhandelt. Begeisternd ist zudem die Boxkraft des Tons und die Stilsicherheit des Autors, sein Gespür für Milieus, Jargons, Stimmungen, Tragikomik.

Biografie:
Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, aufgewachsen in Nicaragua und Wien, studiert Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. „Nicht wie ihr“ ist sein erster Roman.

Herkunft von Saša Stanišić

Saša Stanišić ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Saša Stanišić © Foto: Diether v Goddenthow

Als vorletzter im Shortlist-Reigen stellt sich Saša Stanišić den Fragen Maike Albaths zu seinem im Luchterhand Literaturverlag erschienenem Werk Herkunft. In seiner Familie gelte er als „Wortquerulantentum“. Entstanden sei der Roman während eines Gesprächs mit seiner zunehmend an Demenz erkrankten Großmutter über Drachen, vor allem aus der Legende des Heiligen Georgs, womit sie zunehmend ihre Gedächtnislücken füllte. Herkunft sei ein Abschied von seiner dementen Großmutter: Während er Erinnerungen sammelte, verliert sie ihre Herkunft, „weil Herkunft für mich viel zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist.“ Herkunft ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung, so der Autor. Es sei ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, über die Stafette der Jugend und viele Sommer, etwa den Sommer, als sein Großvater seiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass der Autor beinahe nie geboren worden wäre. Es sei der Sommer, als er fast ertrank und an dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ,  und der dem Sommer ähnlich war, als er über viele Grenzen nach Deutschland floh. In Herkunft sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden, so der Autor.

Herkunft verwendet Stanišić als Metapher für Vergänglichkeit. Und so zählen in seinem Werk dazu ein Flößer, ein Bremser, eine Marxismus-Professorin, die Marx vergessen hat, oder ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte, aber auch ein  Wehrmachtssoldat, der Milch mag oder eine Grundschule für drei Schüler, ein Nationalismus, ein Yugo, ein Tito, ein Eichendorff, selbst ein Saša Stanišić.

Kommentar der Jury: Ein autobiographischer Roman über die Frage unserer Zeit, eine Selbstbefragung in Fragmenten und Arabesken: über Geschenk und Bürde der Herkunft, über das Finden einer neuen Spra¬che, mit einem Kern, „hart wie der einer Pflaume“, und über das Werden eines Schriftstellers. Auf verschlungenen Wegen führt „Herkunft“ uns nach Višegrad, Bosnien, in das Dorf der Großeltern und nach Heidelberg, wo der Halbwüchsige als Kriegsflüchtling landete. Verschmitzt und behände bleibt der Erzähler stets auf der Hut vor sich selber, mit Klugheit, Humor und Sprachwitz, ohne „Zugehörigkeitskitsch“ und Opferpa¬thos. Sein berückendes Vergnügen am Erzählen macht die bleischweren Themen federleicht – Wundbehandlung mit den Mitteln der Literatur.

Biografie: Saša Stanišić, 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren, lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ wurde in 31 Sprachen übersetzt. Der Roman „Vor dem Fest“ war ein SPIEGEL-Bestseller und ist mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Für den Erzählungsband „Fallensteller“ erhielt er den Rheingau Literatur Preis sowie den Schubart-Literaturpreis. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.

Brüder von Jackie Thomaes 

Jackie-Thomae. ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Jackie-Thomae. © Foto: Diether v Goddenthow

Anna Engel und Jackie Thomaes Gespräch über Brüder, erschienen im Hanser Berlin, beenden den Vorstellungsreigen der Shortlist-Autoren: Nach ihrem ersten Roman Momente der Klarheit (2014) wollte Thomae mal was über Männer machen. Unterschwellig geht es um die zentrale Frage, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind. In ihrem Plot lebt einer der Hauptprotagonisten Mick, ein charmanter Hasardeur, ein Leben auf dem Beifahrersitz, frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück – bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, ist frei, aus sich zu machen, was er will: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht plötzlich als Aggressor da – ein prominenter Mann, der tief fällt. Brüder erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnte nicht unterschiedlicher sein.

Kommentar der Jury: „Brüder“ ist ein groß angelegter Roman, den man in einer amerikanischen Erzähltradition verorten kann, der aber mit seinem ungewöhnlichen Plot über zwei sehr konträre Brüder eines afrikanischen Vaters von deren Kindheit in der DDR in die weite Welt bis nach London, Paris und Südamerika führt. Völlig unaufgeregt werden Themen wie Hautfarbe, Erfolg, Liebe, die Frage nach dem richtigen Leben und vor allen Dingen die Bedeutung von Schicksal, Herkunft und Prägung verhandelt. Man liest in „Brüder“ eine sehr spannende Geschichte, aber Jackie Thomae gelingt es mit Leichtigkeit, geradezu nebenher existenzielle Fragen und Themen einzuflechten.
Biografie:
Jackie Thomae, 1972 in Halle an der Saale geboren, ist Journalistin und Fernsehautorin. 2015 erschien ihr Debütroman „Momente der Klarheit“. Sie lebt in Berlin.

Buchverkaufsstand der Buchhandlung "Land in Sicht" ©  Foto: Diether  v Goddenthow
Buchverkaufsstand der Buchhandlung „Land in Sicht“ © Foto: Diether v Goddenthow