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Wenn das reale Lebensumfeld bedrohlicher wird als das fiktive eines Kriminalromans, ist es vielleicht an der Zeit den Wohnort zu wechseln. Nicht so bei Esmahan Aykol! Die Deutsch-Türkin, die sich gestern Abend zum Auftakt des KrimiMärzes als neue Wiesbadener Krimistipendiatin im Literaturhaus Villa Clementine der Öffentlichkeit vorstellte und aus ihrem neuen Krimi „Istanbul Tango“ las, verriet, während der Gezi-Proteste ihre Berliner Wohnung komplett aufgegeben zu haben und ganz nach Istanbul gezogen zu sein.
Die im Jahr 2013 entflammten Proteste rund um den Gezi-Park wären eine Zeitenwende gewesen. Man spräche heute von vor Gezi und nach Gezi. Bei den Gezi-Protesten hätten viele liberale Intellektuelle erst realisiert, wie die Regierung mit Andersdenkenden umginge und seien in die Opposition gegangen, so Esmahan Aykol. „Vor Gezi dachte ich immer: ‚Wir sind so wenige …‘. Dabei geht es vielen so wie mir. Das zu sehen hat unheimlich gut getan, so dass ich sagen konnte: Egal, was jetzt geschieht: Ich fühle mich nach so vielen Jahren in Istanbul endlich wieder zu Hause.“ Und so gab sie ihre Berliner Wohnung, in der sie sich zum Arbeiten zurückzog, auf, auch weil sie mittlerweile auch in ihrer Istanbuler Wohnung arbeiten konnte. 10 bis 12 Stunden täglich. Wer Jura studiert habe, könne auch arbeiten. Danach ginge sie schwimmen. Arbeiten und Schwimmen, das sei momentan ihr Leben, so Esmahan Aykol, die zur Zeit an einem anderen Stoff, an einem politischen Roman arbeitet. Mehr wurde aber nicht verraten.
Die Frage, ob sie ihren aktuellen Krimi „Istanbul Tango“, der noch 2012, also noch vor Gezi entstand, jetzt anders schreiben würde, verneinte Esmahan Aytol. Sie würde ihn genau gleich schreiben wie vor Gezi. Natürlich sei darin ihre Hauptfigur, die auf eigene Faust ermittelnde Buchhändlerin Kati Hirschel, auch nicht mehr ganz so begeistert von Istanbul wie früher. Denn Istanbul sei nicht mehr dieselbe Stadt, die sie so sehr liebte.
„Was hält Sie denn noch in Istanbul, in Zeiten wie diesen?“, fragte Moderatorin Marta Hübinger, Redaktionsleiterin „Wissen/ARTE“:„Ich liebe diese Stadt nach wie vor, ich genieße die Stadt!“ Wie sich das alles in Zukunft entwickelte, stünde allerdings noch in den Sternen, so die Krimiautorin. Auch ihre Eltern, beide Rechtsanwälte, und eine an Alzheimer erkrankte Tante lebten in der Türkei, um die sie sich kümmern würde. .
Das Leben sei schwer unter diesen Umständen, und es gäbe keine Zeitungen mehr „für die ich schreiben kann. Die existieren nicht mehr!“. Sie schriebe ab und zu ausschließlich für die ausländische Presse. „Es wird immer bedrückender!“, so Esmahan Aykol.
Auf Marita Hübingers Frage, ob es denn noch Menschen gäbe, die offen dagegen protestieren, verweist die Krimiautorin auf eine wachsende Frauenbewegung in der Türkei: „Es gibt sehr mutige Frauen der immer größer werdenden Frauenbewegung“, die am 8. März im vergangenen Jahr die größte Protestkundgebung gegen Erdogans Politik organisiert hätten, die es je gab. Esmahan Aykol räumte ein, dass in diesem Jahr 8 Kundgebungen der türkischen Frauenbewegung in Istanbul und Izmir verboten worden seien. „Aber ich glaube, es wird was geschehen, am 8. März“, so die Krimiautorin. Intellektuelle trauten sich nicht mehr, auf Kundgebungen zu gehen, oder seien, sofern sie nicht verhaftet wären, ins Ausland geflohen. Ihre Freunde, Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle, seien alle ins Ausland gegangen.
Ob sie denn noch selber protestiere? „Wenn mich etwas sehr interessiert, schon!“. Beispielsweise habe letztes Jahr Erdogan gesagt: „Frauen, die keine Kinder haben, sind halbe Frauen!“ „Am nächsten Tag bin ich zur Demonstration gegangen!“ so Frau Aykol. Die Autorin gehe auch zu den Gerichts-Verhandlungen ihrer inhaftierten Freunde.
Der „Welt“-Kollege Deniz Yücel sei jetzt der 155. gefangene Journalist in einem türkischen Gefängnis, der von Erdogan festgenommen worden sei, nannte Marita Hübinger die aktuellen Zahlen von Reporter ohne Grenzen. Das sei eine unglaublich erschreckend große Zahl, wobei Esmahan Aykol annimmt, dass die „Mehrheit davon kurdische Journalisten“ seien.
Warum nutzte „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel sein deutscher Pass nicht? „Wenn man die doppelte Staatsangehörigkeit hat“, so Juristin Esmahan Aykol, “ist man in der Türkei Türke und in Deutschland Deutscher!“
„Sie haben einen deutschen Pass? Ist das von Vorteil? Haben sie das bewusst entschieden, ihre türkische Staatsbürgerschaft abzugeben?“, fragt die Moderatorin: „Ja, damals 2005, als ich in Berlin eingebürgert worden sei, gab es solche Probleme mit der Türkei noch nicht. Aber damals dachte ich: der deutsche Pass hat mehr Vorteile! So hab‘ ich mich dafür entschieden. Aber jetzt merke ich: Das war die klügste Entscheidung meines Lebens„, erläutert die Juristin Aykol ihre privilegierte Situation.
„Haben Sie manchmal Angst in Istanbul zu leben?“. „Als Frau hat man Angst, ja!“, gibt Esmahan Aytol unumwunden zu. Sie ginge nicht mehr aus, bliebe abends ganz zuhause. Man treffe sich auch kaum mehr in Lokalen, und wenn, müsse man auf die Nebentische achten, ob dort jemand mithöre. „Man redet nicht viel über gefährliche Geschichten. Und wenn, dann trifft man sich in privaten Wohnungen!“ so Esmahan Aytol.
Obgleich Esmahan Aytol auch keinen Hehl aus ihrer Meinung zum armenischen Völkermord macht, habe sie noch nicht das Gefühl gehabt, dass man auch sie mal verhaften könne. „Ich denke, wenn es für mich gefährlich wird, dann werde ich vorfühlen und das Land verlassen. Denn ich denke, dass ich die Zeit dafür haben werde!“, ist Frau Aytol überzeugt. Bei so viel Optimismus der Autorin bleibt bei manchen Besucher doch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend: Denn fühlte sich nicht auch „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel sicher, als er von sich aus zur Polizei ging, um mit den Behörden zu reden und dabei unerwartet in Haft genommen wurde?
Die aktuellen Türkeiereignisse überschatten ein wenig den Abend. Die Konzentration auf den eigentlichen Anlass, die Lesung, fällt manch einem Zuhörer sichtlich schwer.
Schließlich gelingt es Esmahan Aykol aber doch, die Hauptprotagonistin Kati Hirschel in zwei gelesenen längeren Passagen ihres neuen Kriminalromans „Istanbul Tango“ aufleben zu lassen. Anschließend signiert die Autorin ihre Werke.
Diether v. Goddenthow / Rhein-Main.Eurokunst
Zum Inhalt:
In „Istanbul Tango“ begleitet Kati Hirschel ihren liebeskranken Freund Fofo zu einer Wahrsagerin – und kriegt gleich selbst eine Weissagung: Eine Leiche tauche bald in ihrer nahen Umgebung auf. Das ist für eine Krimibuchhändlerin und leidenschaftliche Leserin nichts Ungewöhnliches. Doch als sie hört, dass eine Bekannte von ihr in kritischem Zustand auf der Intensivstation liegt, wird Kati klar, dass die Wirklichkeit ihr mehr abverlangt, als mit einem Buch in der Hand auf dem Sofa zu sitzen: Hier sind ihre detektivischen Fähigkeiten gefragt. Bald findet Kati heraus, dass Nil, bevor sie eingeliefert wurde, an einem Roman arbeitete. Und der ist, obwohl er im fernen Argentinien spielt, gewissen Leuten ein Dorn im Auge.
Esmahan Aykol
Istanbul Tango
Ein Fall für Kati Hirschel
Paperback 336 Seiten. Zürich 2016
ISBN 978-3-257-30036-9,
€ (D) 16.00 / sFr 21.00* / € (A) 16.50
Esmahan Aykol
Esmahan Aykol, geboren 1970 in Edirne in der Türkei, arbeitete während des Jurastudiums als Journalistin für verschiedene türkische Zeitungen und Radiosender. Darauf folgte ein Intermezzo als Barkeeperin. Heute konzentriert sie sich aufs Schreiben. Esmahan Aykol, Schöpferin der sympathischen Detektivin Kati-Hirschel, lebt in Istanbul.
Auszeichnungen:
›Wiesbadener Krimistipendium‹, vier Wochen im März, Autorin schreibt in dieser Zeit an einem von ihrem Wiesbaden-Aufenthalt inspirierten Kurzkrimi und wird in der Jury des Fernsehkrimifestivals mitwirken, 2017
›Stipendium der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte‹ der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention im August und September 2017 in Meran, 2017