Jordans Buch „Jahrhunderterbe Wiesbaden“ ist ein brillantes Plädoyer für erneuten Aufnahmeantrag ins UNESCO-Welterbe-Verzeichnis – Abrechnung mit der „Nachkriegs-Moderne“

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Am 11. Dezember 2024 präsentierten Wiesbadens Oberbürgermeister Gerd-Uwe Mende und Dr. Jörg Jordan in Beisein von sam-Direktorin Sabine Philipp und Verlegerin Prof. Dr. Jutta Dresken-Weiland im vollbesetzten Wiesbadener Stadtmuseum am Markt (sam) Jörg Jordans neues Buch „Jahrhunderterbe Wiesbaden. Stadterneuerung in der Stadt des Historismus. Konflikte und Perspektiven“ (Schnell & Steiner, Regensburg Juli 2024, 232 Seiten, 49,95 Euro).

Jörg Jordan: „Jahrhunderterbe Wiesbaden. Stadterneuerung in der Stadt des Historismus. Konflikte und Perspektiven“. im Schnell & Steiner Verlag, Regensburg Juli 2024, 232 Seiten, 49,95 Euro

„Dieses Buch verfolgt zwei Ziele“, so Jordan. „Zum einen ist es mir wichtig, in der Wiesbadener Stadtöffentlichkeit das Bewusstsein für die Einzigartigkeit unserer Stadt als »Perle des Historismus« zu verstärken.“ Da sich der historische Bauboom Wiesbadens innerhalb von nur 100 Jahren vollzog, „spiegelt das Stadtbild unserer heutigen Innenstadt das Bauen im 19.Jahrhundert mit allen Spielarten des damals dominierenden historistischen Architekturstils mit einer Reichhaltigkeit wider, wie in keiner anderen deutschen Stadt. Die wirtschaftliche Blüte als ‚Weltkurstadt‘ schlug sich dabei auch in der gestalterischen Vielfalt und der durchgängig hohen handwerklichen Qualität der Bauwerke nieder. Das und die Tatsache, dass Wiesbaden in der weiteren Entwicklung die Bedrohungen für das historistische Stadtbild zwar nicht ohne Schäden, insgesamt aber doch vergleichsweise glimpflich überstanden hat, macht die Stadt heute zu einer der schönsten Großstädte Deutschlands. Dieses Buch soll vor allem diesen Schatz der erhaltenen historistischen Architektur für alle hier Lebenden und Arbeitenden in jeder Beziehung anschaulich machen“, so Jordan.

Ein zweites Ziel sei aber auch, dass „einige der aus der Baugeschichte der Stadt besonders wichtigen Ereignisse und Konflikte in Erinnerung zu bleiben, weil sich manche Details des heutigen Stadtbildes nur vor deren Hintergrund erklären lassen. Insbesondere die mit dem Konzept des von der Stadt beauftragten Planers Ernst May für das »Neue Wiesbaden« verbundenen Pläne, wesentliche Teile der historischen Innenstadt umzustrukturieren und im Stil rein funktionaler Nachkriegsarchitektur weitflächig neu zu bebauen, gehören dazu. Diese Planungen sollten schon aus stadtgeschichtlichen Gründen nicht in Vergessenheit geraten, so der Autor, der anschließend Kapitel für Kapitel durchging.

(V.li.:) Verlegerin Prof. Dr. Jutta Dresken-Weiland, Autor Dr. Jörg Jordan, Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende, sam-Direktorin Sabine Philipp..© Foto: Diether von Goddenthow

Kurzum: Das Buch ist nicht nur ein grandioses wie liebevolles Porträt Wiesbadens, sondern auch ein eindringliches Plädoyer für eine (erneute)-Beantragung der Landeshauptstadt zur Aufnahme der Stadt ins UNESCO-Verzeichnis der Welterbestätten in Deutschland. Jordan kritisiert scharf, dass 2009 im Rathaus das Konzept von Landeskonservator Professor Dr. Gottfried Kiesow, Wiesbaden als „Stadt des Historismus“ in das UNESCO-Weltkulturerbe aufnehmen zu lassen, nicht mehr ernst genommen wurde und stattdessen auf die Bewerbung als „Bäderstadt“ umgeschwenkt wurde – ein Ansatz, der bekanntlich scheitern musste. Kiesow fasste bereits 2005 zusammen: „So ist allein Wiesbaden heute das umfangreichste, bedeutendste gesamtstädtische Zeugnis des Historismus in Deutschland.“ Jordan unterstreicht, dass Wiesbaden alle Kriterien der „Einzigartigkeit“ und „Universalität“ erfüllt, die für eine Aufnahme ins Weltkulturerbe notwendig sind. Ein Beispiel für diese Einzigartigkeit seien etwa die Kurhauskolonnaden, die mit ihren 129 Metern die längste Säulenhalle Europas darstellen. Jordan macht deutlich, dass Wiesbadens außergewöhnliches architektonisches Erbe ein starkes Fundament für den erneuten Anlauf bildet.

Jordans Werk ist aber auch eine schnörkellose Abrechnung mit den bis heute nachwirkenden Auswüchsen städtebaulicher Fehlentscheidungen im Namen der „Moderne“: „Die größte Bedrohung dieses städtebaulichen und architektonischen Kulturerbes Wiesbadens“, sei, so Jordan in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Stadtregierung selbst ausgegangen. „Das begann schon vor den berüchtigten Innenstadtplänen der 1961 vom Magistrat mit der Stadtentwicklungsplanung beauftragten Professoren Ernst May und Kurt Leibbrand“, etwa mit dem Abriss der intakten Wandelhalle zur Trinkhalle und Palasthotel 1955. Die umfassendste Gefahr für Wiesbaden als Stadt des Historismus habe sich jedoch aus Ernst Mays und Kurt Leibbrands und – in Vertretung – Rolf-Werner Schaaffs Gesamtplanung der Wiesbadener Stadtentwicklung für 20 Jahre ergeben. Diesen Gesamtentwicklungsplan hatte die Stadt Wiesbaden 1963 herausgegeben in der Buchpublikation »Das Neue Wiesbaden«.

Jordan hat diese damaligen Planungsvorstellungen des Wiesbadener Magistrats, die den Abriss großer Teile des historischen Wiesbadens vorsahen, etwa des Bergkirchenviertels, des Schiffchens und des Villenviertels „Wiesbaden Ost“ laienverständlich aufbereitet und wunderbar dokumentiert.

Ernst Mays Plan der neuen City Ost mit Abriss des historischen Villenviertels, ausgestellt mit Modell im sam. © Foto: Diether von Goddenthow

„Aus heutiger Sicht ist die Begeisterung von Architekten wie Bauherren der damaligen Zeit für die maßstabslose Sehlichtarchitektur, wie sie deutschlandweit in vielen Trabantenstädten des Sozialen Wohnungsbaus, aber eben beispielsweise auch in Wiesbadens Innenstadt mit Kaufhausbauten in der Langgasse, mit dem ersten Plenarsaalbau des Landtags an der Grabenstraße und mit der Errichtung des Hochhauses am Kureck verwirklicht wurde, schwer nachvollziehbar. Die vom >>Brutalismus« Le Corbusiers inspirierte, demonstrativ funktionale Behälterarchitektur galt nach 1945 aber mindestens vier Jahrzehnte lang völlig unbestritten überall als die wünschenswerte Moderne und die der Gegenwart allein angemessene architektonische Ästhetik. Geringschätzung bis Verachtung des Mainstreams der Stadtplaner und Architekten traf dagegen die Baukunst des Historismus. Eine Stadt wie Wiesbaden, in der dieser Stil die historischen Stadtviertel nach wie vor dominierte, galt schon deswegen als »sanierungsbedürftig<<, und der Begriff meinte flächenhaften Abriss und Neubau im Stil der sechziger Jahre des 20.Jahrhunderts“. (Jordan, Jörg: „Die städtische Selbstzerstörung am Kochbrunnen“ in „Jahrhunderterbe Wiesbaden. Stadterneuerung in der Stadt des Historismus. Konflikte und Perspektiven“, Regensburg 2024, S. 138).

Im Kapitel V beschrieben, ist es den Jungsozialisten Jörg Jordan, Achim Exner und Michael von Poser und einer von ihnen losgetretenen Bürgerbewegung mit Hausbesetzungen etc. zu verdanken, dass der bereits beschlossene großflächige Abriss all dessen verhindert wurde, was Wiesbaden historisch einzigartig und heute besonders lebens- und liebenswert macht, etwa ein fast vollständiges Gründerzeit-Ensemble, der mittelalterliche Stadtkern im Schiffchen, das Bergkirchenviertel inklusiv der Taunusstraße, der Schlossplatz, das Villenviertel inklusive der Villa Clementine und wertvoller Gebäude des Jugendstils.

Jordans Werk schließt eine Lücke

Oberbürgermeister Gert Uwe Mende ist voll des Lobes für Jörg Jordans neue Standardwerk „Jahrhunderterbe Wiesbaden“ © Foto: Heike von Goddenthow

Oberbürgermeister Gerd Uwe Mende, von Hause aus Historiker, ist voll des Lobes für Jordans Werk, das „eine Lücke in der Geschichtsschreibung der Landeshauptstadt Wiesbaden“ schließe, nämlich die nach „der Frage der historischen Entwicklung unser Landeshauptstadt Wiesbaden von 1800 bis 1900“. Es gäbe „Bücher von Wiesbaden in der Römerzeit, vom Mittelalter, Wiesbaden in der Goethezeit, Wiesbaden im Biedermeier – aber der Historismus nochmal so vertieft, ist sicherlich eine zusätzliche Leistung“, so der Oberbürgermeister. Das Buch zeichne sich insbesondere aus durch eine aufwendige Recherche, die Zusammenstellung und durch intensive Bildsuche, und der ausgezeichneten Bilderqualität. Das Buch beschreibe Wiesbaden als Boom-Town des 19. Jahrhunderts, nämlich vom Ackerdorf um 1800 mit 2500 Einwohnern zu einer Weltkurstadt um 1914 mit über 110 000 Einwohnern, so Mende. „Ich kann dieses Buch nur jedem /jeder weiterempfehlen. Es ist ein wirklich gelungenes Werk, ein tolles Werk, das sicherlich zum Standardwerk der Wiesbadener Stadtgeschichte wird“, so der Oberbürgermeister.

Ein Vermächtnis an nachfolgende Generationen

Mehr noch: Jordans Werk „Jahrhunderterbe Wiesbaden. Stadterneuerung in der Stadt des Historismus. Konflikte und Perspektiven“ ist vor allem ein Vermächtnis an nachfolgende Generationen, mit dem wertvollen kulturellem Erbe Wiesbadens besonnen und kundig umzugehen. Zudem bieten „Jordan, Exner und von Posern“ hier ein Lehrstück par excellence , wie bereichernd es sein kann, sich rechtzeitig – allen Ideologien und Main-Stream-Überzeugungen zum Trotz – seines eigenen Verstandes zu bedienen und dafür einzutreten.