
Bereits zum 17. Mal präsentierten das Kulturamt Frankfurt am Main und das Literaturhaus Frankfurt am 6. Oktober 2024 im ausverkauften Schauspiel Frankfurt die Nominierten der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Diese Veranstaltung fand traditionell eine Woche vor der Preisverleihung wieder in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels statt, der den Preis am 14. Oktober 2024 im Frankfurter Römer verleihen wird. Die Nominierten sind Martina Hefter, Maren Kames, Clemens Meyer, Ronya Othmann, Markus Thielemann und Iris Wolff. Die sechs Finalisten wurden in Lesungen und Gesprächen wechselnd vorgestellt von Sandra Kegel (F.A.Z.), Dr. Alf Mentzer (hr) und Christoph Schröder (freier Kritiker).

In diesem Endspurt um den besten deutschsprachigen Roman haben sich auffallend Werke durchgesetzt, die einen starken Fokus auf die Vergangenheit legen. Aus den rund 225 eingereichten Titeln haben es vor allem jene in die Shortlist geschafft, die historische Themen aufgreifen und die Auseinandersetzung mit früheren Epochen und Ereignissen in den Vordergrund stellen. Identitäts- und Diversitätserkundungen, die in den letzten Jahren in der literarischen Debatte oft im Mittelpunkt standen, treten auf dieser Shortlist überraschend in den Hintergrund. Dieser Trend zum Rückblick auf historische Ereignisse und deren Bedeutung für die Gegenwart könnte andeuten, dass die Vergangenheit in der aktuellen deutschsprachigen Literatur wieder eine dominierendere Rolle spielt, und auch eine Art Gegenwartsflucht sein. Was die Jury aus dieser thematischen Gewichtung macht, wird sich bei der Preisverleihung zeigen.
Clemens Meyer Die Projektoren

Clemens Meyer, der 2015 als Frankfurter Poetikdozent tätig war, stellt mit Die Projektoren das umfangreichste Werk der Shortlist vor. In seinem Gespräch mit Alf Mentzer beschreibt Meyer den Roman als eine Erzählung im Montage-Stil, die auf 1049 Seiten von „unerhörten historischen Koinzidenzen“ handelt. Der Leipziger Autor verwebt unterschiedliche Zeit- und Realitätsebenen miteinander, um die Überlagerung von Geschichte und Fiktion zu beleuchten. Ein Beispiel dieser Koinzidenzen ist der Ort, an dem während des Jugoslawienkrieges in den 1990er Jahren serbische und kroatische Milizen gegeneinander kämpften – genau dort waren 30 Jahre zuvor die berühmten Winnetou-Filme gedreht worden.

Meyer geht sogar noch weiter zurück in die Geschichte und erklärt, wie Karl May, der Schöpfer dieser fiktiven Welten, die „Balkanroute“ vorweggenommen habe. Seine Werke und Vorstellungen hätten später die Ideologie von Neonazis beeinflusst, was das Buch zusätzlich auf eine dunklere Ebene hebt. Meyer betont, dass „Bilder auch Waffen sein können“, ein Gedanke, der sich in der Gestaltung des Romans widerspiegelt: Auf dem Cover von Die Projektoren ist eine „fotografische Flinte“ abgebildet, was die doppelte Bedeutung von Bildern und deren Macht verdeutlichen soll.
Diese Verknüpfung von fiktionalen und historischen Erzählsträngen ist charakteristisch für Meyers Stil, der sich durch seine fragmentierte und komplexe Struktur auszeichnet. Der Roman untersucht die Wechselwirkungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und beleuchtet, wie Bilder, Filme und Erzählungen in der kollektiven Vorstellungskraft über Generationen hinweg Einfluss ausüben können – manchmal auf überraschend gefährliche Weise.
Maren Kames Hasenprosa

In Hasenprosa von Maren Kames (Suhrkamp) verschmelzen autobiografische Elemente mit einer spielerischen und experimentellen Sprache, die das Werk zu einem besonderen literarischen Erlebnis macht. Kames erzählt in vielem ungeniert entlang ihres eigenen Lebens, bleibt dabei jedoch weit entfernt von konventionellen autobiografischen Erzählformen. Stattdessen bewegt sich der Text in einer sprachlich außergewöhnlichen, fast surrealen Landschaft, die von einem sprechenden Hasen begleitet wird. Dieser Hase fungiert als eine Art skurriler Erzähler oder Kommentator, der das Geschehen humorvoll und philosophisch auf eine absurde Ebene hebt.

Die experimentelle Sprachgestaltung in Hasenprosa bricht mit traditionellen Narrationsformen und lädt die Leser ein, sich auf eine literarische Reise voller Überraschungen und sprachlicher Verspieltheit einzulassen. Kames kombiniert in ihrer Prosa autobiografische Fragmente mit einer surrealen, teils fragmentierten Erzählstruktur, die das Alltägliche und das Fantastische miteinander verbindet. Das eigene Leben wird zur Spielwiese für poetische und philosophische Reflexionen, während der Hase als Symbol für die Offenheit der Erzählung fungiert – er spricht, kommentiert und verleiht dem Text eine fast märchenhafte Leichtigkeit.
Kames gelingt es, die Grenze zwischen Realität und Fiktion bewusst zu verwischen. Ihr Werk ist ein aufregendes Beispiel dafür, wie moderne Literatur sich nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die Möglichkeiten der Sprache selbst konzentriert und dabei eine neue, freie Form des Erzählens schafft.
Markus Thielemann Von Norden rollt ein Donner

Markus Thielemanns Roman Von Norden rollt ein Donner bringt eine weitere spannende Erzählung im Ringen um den Deutschen Buchpreis ein. In Thielemanns Roman, erschienen bei C. H. Beck, geht es um die Rückkehr der Wölfe in die Lüneburger Heide. Diese bedrohen die Schafherde des jungen Schäfers Jannes und symbolisieren zugleich das Wiederauftauchen des Verdrängten. Jannes entdeckt in dieser Landschaft, die sowohl touristisch als auch militärisch genutzt wird, dunkle historische Episoden, die sich in die deutsche Geschichte einfügen. Thielemanns Roman ist gewissermaßen auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller Hermann Löns und klassischer deutsche Geschichte, in der man mit einer gewissen Realität aufwächst, nur um später zu erkennen, was man vorher nicht wahrgenommen hat, so der Autor.
Ronya Othmanns Vierundsiebzig

Ronya Othmann ist Vierte im Reigen der Bühne Roman. Ihr Roman Vierundsiebzig (Rowohlt) fügt sich mit feiner Abstimmung in die neueren literarischen Trends ein, indem er Elemente der Autofiktionalität und das Vertrauen auf die Sprache als Werkzeug zur Erkundung des Intimen und Unbekannten kombiniert. In ihrem Werk thematisiert Othmann den Völkermord an den Jesiden durch den Islamischen Staat. Sie verwebt persönliche und historische Ebenen, indem sie einerseits von den traumatischen Erlebnissen dieser Minderheit erzählt und andererseits die eigene Identität und familiäre Geschichte reflektiert.
Die Sprache wird in Vierundsiebzig zu einem Mittel, um sich sowohl den Schrecken der Gewalt als auch den emotionalen Tiefen zu nähern. Othmann zeigt, wie durch Sprache ein Raum geschaffen werden kann, der es ermöglicht, das Unaussprechliche zu berühren und dem Vergessen entgegenzuwirken. Ihr Roman fügt sich in eine literarische Strömung ein, die nicht nur persönliche Geschichten erzählt, sondern zugleich auf eine universellere Ebene verweist – eine, die das kollektive Gedächtnis und die Auseinandersetzung mit historischem Unrecht in den Mittelpunkt stellt.
Martina Hefter Hey guten Morgen, wie geht es dir?

In Hey guten Morgen, wie geht es dir? von Martina Hefter (Klett-Cotta) steht die Performancekünstlerin Juno im Zentrum der Erzählung. Juno nimmt dabei eine ungewöhnliche und provokative Rolle ein, indem sie sich bewusst auf nigerianische Liebesbetrüger einlässt. Doch anstatt das typische Opfer solcher Betrugsmaschen zu werden, dreht sie den Spieß um: Sie versucht, die Betrüger nach den Regeln ihres eigenen Spiels auszuhorchen und zu manipulieren. Diese Umkehr der Machtverhältnisse wird zu einem performativen Akt, in dem Juno das System der Täuschung und Manipulation erforscht.
Hefter nutzt diesen erzählerischen Rahmen, um Themen wie Macht, Vertrauen und Kontrolle in einer digitalisierten Welt zu beleuchten. Junos künstlerischer Ansatz, die Betrüger nicht nur zu entlarven, sondern ihnen auf kreative Weise entgegenzutreten, hinterfragt die Dynamik solcher Beziehungen und die psychologischen Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen. In gewisser Weise wird das Einlassen auf die Betrüger zu einem Kunstprojekt, das gleichzeitig reale und symbolische Ebenen umfasst.
Hefters Roman verbindet diese spannungsgeladene Handlung mit einer Reflexion über Performativität, Selbstbestimmung und den Versuch, sich durch Sprache und Interaktion Macht über scheinbar unkontrollierbare Situationen zu verschaffen.
Iris Wolff Lichtungen

Iris Wolff beschließt den literarischen Abend im Schauspiel Frankfurt mit der Vorstellung ihres Romans Lichtungen, der auf außergewöhnliche Weise rückwärts erzählt wird. In diesem Werk, das bei Klett-Cotta erschienen ist, beginnt die Geschichte der Protagonisten Lev und Kato mit ihrem Leben in der Schweiz und endet in einem kleinen rumänischen Dorf, in dem ihre Freundschaft unter widrigen Bedingungen wie Diktatur und Armut entstanden ist. Wolff beschreibt dabei, wie dieser rückwärts gerichtete Erzählstil es ermöglicht, die Aufmerksamkeit der Leser auf den Prozess und die Entwicklung der Ereignisse zu lenken, anstatt auf den Ausgang der Geschichte: „Man hat eher eine Neugierde darauf, wie alles gekommen ist, nicht die Neugier darauf, wie alles wird.“
Durch diese ungewöhnliche Struktur wird die traditionelle Spannungsdramaturgie vieler literarischer Werke, die auf dem sukzessiven Aufbauen eines Höhepunkts basiert, auf den Kopf gestellt. Wolff schafft es, die Leserinnen und Leser zu fesseln, ohne dass der Verlauf der Ereignisse oder das Ende der Geschichte im Mittelpunkt steht. Stattdessen liegt der Reiz darin, die Ursprünge der Charaktere und ihrer Beziehungen zu erkunden. Wie Wolff selbst erklärt, könne man durch diese Erzählweise nichts spoilern, da der Ausgang der Geschichte von Beginn an klar ist.

Diese Art der Erzählung stellt traditionelle Erwartungen an Spannung in der Literatur infrage und fordert die Leserschaft heraus, einen anderen Zugang zu narrativen Entwicklungen zu finden. Dass das Publikum des Abends sich so aufgeschlossen gegenüber diesen experimentellen Formen zeigt, zeugt von einer Abenteuerlust, die Iris Wolffs Roman in besonderer Weise anspricht.
Fazit
Der Shortlist-Abend des Deutschen Buchpreises im Schauspiel Frankfurt, der jedes Jahr schnell ausverkauft ist, zeigt auch in Zeiten sinkender Buchverkäufe die anhaltende Anziehungskraft der Literatur. Dass die 700 Plätze trotz der Herausforderungen für Buchhandel und Verlage so rasch vergeben sind, ist ein positives Zeichen für das Interesse an der literarischen Kultur. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass das Publikum seine Tickets kauft, ohne vorher zu wissen, welche Werke genau präsentiert werden.