ffm. Die Stadt lag in Trümmern. Wer zur Buchmesse wollte, kam an Schutthalden und Ruinen vorbei, auch wenn die Aufräumarbeiten schon vorangeschritten und die Zeichen des Aufbruchs unverkennbar waren. Wie die erneuerte rote Sandsteinfassade der Paulskirche, die man als erstes historisches Gebäude in Frankfurt am Main nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut hatte. Es war pünktlich fertig geworden, um 1948 dort die Zusammenkunft der Nationalversammlung 100 Jahre zuvor zu feiern: steinernes Symbol einer demokratischen Tradition, an die anzuknüpfen nach den zwölf verheerenden Jahren des Nationalsozialismus ein Gebot der Stunde war.
Vom 18. bis 23. September 1949 veranstaltete der Hessische Verleger- und Buchhändlerverband im Umgang des geschichtsträchtigen Rundbaus eine Bücherschau mit 205 Ausstellern. Sie mussten sich jeweils mit zwei Quadratmetern Standfläche begnügen. Alle sind gleich und sollen es künftig auch bleiben – eine bestechende Idee, die nur der Wirklichkeit nicht lange standhielt.
Für die Frankfurter Buchmesse war 1949 kein absoluter Neubeginn. Sie konnte auf eine mindestens fünf Jahrhunderte währende und zumeist erfreuliche Geschichte des Austauschs geistiger Produkte zurückblicken. Im 15. und 16. Jahrhundert war die Stadt im Buchhandel konkurrenzlos, hier wurden die Schriften des Humanismus verkauft. Die Bücher kamen in Fässern.
Über teure Übernachtungsangebote, unfreundliche Wirte, durch die Gassen ziehende Menschenmassen, geschäftigen Trubel, dem niemand entfliehen konnte, und ausufernde Saufgelage berichteten damals die Zeitgenossen. Auch hier lassen sich Verbindungslinien zur Gegenwart ziehen. Die Buchmesse avancierte bald nach ihrer Wiedererstehung zur großen Literaturbetriebsfeier, „Gate crashing“ wurde zum Buchmessen-Sport mit dem Ziel, die Partys der großen Verlage zu entern, Freibierorgien wie auf den legendären Feiern des Eichborn-Verlags in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Säkulums kontrastierten das Bild von den feinsinnigen Büchermenschen.
Da die Besitzverhältnisse an der Paulskirche im Jahr 1949 noch nicht geklärt waren und sich die evangelische Synode als Hausherrin verstand, stellte sie als Bedingung für die Bücherschau, dass dort keine, wie es hieß, „antireligiösen Schriften“ auslagen. Nur widerwillig ließen sich die Veranstalter darauf ein. In einer knappen Woche besuchten 14.000 Menschen die Veranstaltung, die einmal zur weltgrößten ihrer Art werden und als Medienmesse an den Fachbesucher- und Publikumstagen bis zu 300.000 Interessierte anziehen sollte.
Nach der Währungsreform 1948 musste die Lust am Buch erst wieder geweckt werden, andere Bedürfnisse hatten Vorrang. Dass es eine ganz besondere Ware ist, behielt die Buchmesse auch später im Auge. Sie versuchte, die Balance zwischen Kommerz und Kultur zu halten, den Fokus aufs Literarische zu legen und die Kraft des Wortes, wann immer es um Freiheit geht, herauszustellen. Auch wenn den Beteiligten klar war, dass nicht alles, was zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde, höchste Ansprüche erfüllte, aber oft gerade deshalb versprach, ein Bestseller zu werden.
Die zweite Ausgabe der Buchmesse 1950, nun schon vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert, ging als „Rheumamesse“ in die Annalen ein: In den Römerhallen, die neben der Paulskirche als Ausstellungsort dienten, war es feucht und kalt, und der Wind pfiff durch die Ritzen des vom Bombenhagel schwer beschädigten Gemäuers. Dennoch ging die Erfolgsgeschichte weiter. Die beginnende Internationalisierung war unverkennbar, 100 Verlage aus Westeuropa und Amerika zeigten ihre Druckwerke.
1951 schließlich nahm die Buchmesse jene Form an, die bis heute Bestand hat: Sie zog in die Messehallen, und erstmals wurde der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, Albert Schweitzer bekam ihn, Bundespräsident Theodor Heuss hielt die Laudatio. Von da an fand die Festlichkeit an jedem Messesonntag statt, ein Termin, an dem sich das kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik artikulierte und gelegentlich heftige Kontroversen entzündeten. Eine Feier des geschriebenen Worts, ein Hochamt des Intellekts, förmlich wie ein Staatsakt: Die Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche ist eine der wenigen Gelegenheiten, in denen Emphase und Demokratie, Feierlichkeit und Sachlichkeit, Erhabenheit und Nüchternheit einen Einklang bilden, in dem seinerzeit so etwas wie die Identität der jungen Demokratie aufschien.
Die Buchmesse wurde zu einem Ereignis, das weit über die Stadtgrenzen hinaus strahlte und innerhalb ihrer zu einem Festival ausgebaut wurde. Es gab immer mehr Rahmenveranstaltungen, die ganze Stadt brummte zu Buchmesse-Zeiten vor Aktivitäten, Schwerpunktthemen, und schließlich wurden Gastland-Auftritte eingeführt. Das führte häufig zu einer Umorientierung des Markts, der sich Literaturen aus anderen Ländern widmete und etliche übersetzte Werke anbot.
Der sorgenvolle Blick auf den Zustand der Branche und das Leseverhalten, auf neue Medien und ihre Nutzung, gehörten von Anbeginn dazu. Adorno mokierte sich 1959 bei einem Gang über die Messe darüber, dass auf belletristischen Werken reißerische Cover-Bilder prangten, um den kommerziellen Erfolg eines Buchs zu sichern. Und als das E-Book aufkam, wurde besonders vernehmlich vom Ende des Buchs, wie wir es kannten, geraunt. Es existierte weiter.
Mit der Digitalisierung änderten sich die Kommunikationsformen so radikal wie allenfalls noch nach der Einführung des Buchdrucks. Die Messe passte sich an. Ungeahnte Vermarktungsmöglichkeiten taten sich auf. Aber auch nie dagewesene Chancen, Wissen und Werte zu verbreiten. Mittlerweile dominieren angesichts von Unterhaltungsexzessen und Manipulationen unvorhersehbaren Ausmaßes kulturpessimistische Sichtweisen den Diskurs übers Digitale. Die Buchmesse aber, wie schon in ihren Anfängen nach wie vor der Aufklärung und der Freiheit des Worts verpflichtet, setzt weiter auf die Potentiale der vernetzten Welt. Um die zunächst viel zu euphorische Hoffnung auf Demokratisierung, die mit den elektronischen Medien und dem Internet verbunden war, neu zu beflügeln.