
Es sei eine Sternstunde des Museums gewesen, als 2023 Barbara und Eduard Beaucamp ein großes, wertvolles und repräsentatives Konvolut von Werner-Tübke-Zeichnungen und -Aquarellen an das Städel Museum gaben, schwärmt Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums. Diese Sammlung sei innerhalb von 50 Jahren von dem langjährigen FAZ-Kunstkritiker und Tübke-Experten Eduard Beaucamp in enger Beziehung zu Tübke und den Künstlern der Leipziger Schule aufgebaut worden. Das sei also eine Sammlung, so Demandt, „die nicht innerhalb von wenigen Jahren, von Kunstberatern begleitet, auf den teuersten Messen der Welt zusammengekauft worden ist, sondern es ist wirklich eine Sammlung von zwei Sammlern, die genau wissen, die genau ausgewählt haben, was sie eben auch erwerben möchten – von diesen Künstlern, die sie über Jahrzehnte auch begleitet haben.“

Diese herausragende Schenkung von 46 Zeichnungen und Aquarellen Tübkes präsentiert das Städel nun vom 2. Juli bis 28. September 2025 in einer Ausstellung, die seinem zeichnerischen Werk und seiner metaphorischen Bildsprache gewidmet ist. Werner Tübke (1929–2004) war einer der bedeutendsten und bekanntesten Maler der DDR. Er gehörte mit Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Heinz Zander zu den Hauptvertretern der sogenannten Leipziger Schule. Einem breiteren Publikum wurde Tübke vor allem durch das Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen über die Bauernkriege im 16. Jahrhundert bekannt. Weniger populär sind seine Zeichnungen.
„Ich-Malerei“
Tübke schuf in Malerei und Zeichnung ein ebenso autarkes wie konsequentes, formal und inhaltlich dichtes Gesamtwerk. „Zeichnen ist elementares Bedürfnis“, formulierte der Künstler einst, „alles andere kommt dann.“ Tübkes Aquarelle und Zeichnungen in Grafit, Feder und Kreide zeugen von großer gestalterischer Freiheit und Eigenständigkeit. Sie sind essenzieller Teil seines künstlerischen Schaffens: Er sammelte in ihnen Ideen, stellte formale Überlegungen an und erarbeitete sich die unterschiedlichsten Themen. Seine Malerei war ein „Denken in Bildern“ und eine Art „„Ich-Malerei“ , wie Eduard Beaucamp diese Begriffe einst insbesondere im Kontext der Malerei Werner Tübkes prägte, um dessen künstlerisches Selbstverständnis und subjektiv geprägten Bildwelten zu beschreiben.
Werner Tübke reflektiert in seinen vielschichtigen Kompositionen, die von einer einfallsreichen, mitunter geradezu überbordenden Fantasie geprägt sind, die Komplexität der Welt mit all ihren existenziellen Fragen, Nöten und Konflikten. Dabei zeigt er ein feines Gespür für die Verletzlichkeit des Menschen, der als Individuum stets im Zentrum seines künstlerischen Schaffens steht.

Engel, Einhörner und Zauberer, Harlekine, Verhüllte, Verschnürte und immer wieder Gefolterte sowie Maskierte bevölkern seine Werke. In diesem „Welttheater“ hebt Tübke durch die schöpferische Aneignung der älteren Kunstgeschichte die Zeit auf – alles scheint durchdrungen von Erinnerung und Bedeutung.
Seine Kunst bedient sich einer realistischen Formensprache, doch bleiben die Bildaussagen häufig in der Schwebe. Es ging ihm weniger um die konkrete Wiedergabe von Wirklichkeit als vielmehr um eine „Seinsdeutung“.
Die Ausstellung wird gefördert von der Heinz und Gisela Friederichs Stiftung und erfährt zusätzliche Unterstützung durch Fritz P. Mayer.
Die herausragende Bedeutung Werner Tübkes für die deutsche Nachkriegskunst wurde früh von dem westdeutschen Kunstkritiker Eduard Beaucamp erkannt und gewürdigt. Seit den späten 1960er-Jahren verfolgte er das Schaffen des „großen Unzeitgemäßen“ – zunächst als Kunstkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, später auch als Freund und Sammler. Oft stand er dabei im Widerspruch zum westdeutschen Kunstverständnis, das Tübkes Werk allzu rasch als sozialistischen Realismus abtat.
Das Städel Museum, die älteste private Museumsstiftung Deutschlands, lebt vom Engagement privater Förderer ebenso wie von Unternehmen, Stiftungen, der Stadt Frankfurt und dem Land Hessen. Auch Barbara und Eduard Beaucamp sind dem Museum seit Jahren eng verbunden: Bereits 2010 ging das Gemälde Madonna mit Kind (1621–1622) von Guercino aus ihrer Sammlung als Schenkung in den Besitz des Museums über.

Werner Tübke sei ein Solitär in der deutschen Nachkriegskunst, betont Museumsdirektor Philipp Demandt: „Seine Werke fordern uns heraus, das Menschliche im Abgründigen, das Zeitlose im Historischen und das Wahre im Verfremdeten zu erkennen. Dass wir sein zeichnerisches Werk heute in solcher Tiefe zeigen können, verdanken wir dem jahrzehntelangen, unermüdlichen Engagement Eduard Beaucamps. Als Kunstkritiker, Freund und Sammler hat er Tübkes Rang früh erkannt und ihn mit großer Leidenschaft öffentlich gemacht. Die großzügige Schenkung von Barbara und Eduard Beaucamp ist weit mehr als ein bedeutender Zugewinn für das Städel Museum – sie eröffnet neue Perspektiven auf Tübkes Werk und verankert es im kunsthistorischen Bewusstsein.“
„Das scheinbar so Realistische in Tübkes Kunst täuscht, denn sie ist alles andere als abbildhaft oder eindeutig. Immer wieder entstehen ‚Kippmomente‘, Unschärfen und Mehrdeutigkeiten. Ihn interessierten die grundlegenden menschlichen Themen, denen er sich im unmittelbaren zeichnerischen oder malerischen Prozess näherte. Mit jeder neuen Arbeit kreiste er diese Themen neu ein. Eduard Beaucamp hat diesen künstlerischen Ansatz treffend als ‚Denken in Bildern‘ beschrieben. Klassische Vorzeichnungen für seine Gemälde gibt es bei Tübke kaum – vielmehr sind Malerei, Zeichnung und Druckgrafik gleichberechtigte Bestandteile eines kontinuierlichen Reflexionsprozesses. Am Ende steht keine eindeutige Bildlösung, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten – medien- und jahrzehnteübergreifend. Tübkes Kunst ist im ständigen Wandel, ebenso metamorph wie seine Bildsprache“, ergänzt Regina Freyberger, Leiterin der Graphischen Sammlung ab 1800 am Städel Museum und Kuratorin der Ausstellung.
Tübke war zeitlebens eng mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig verbunden – als Student, Professor und schließlich Rektor. Sein Verhältnis zur DDR war dabei von Spannungen geprägt: Seine eigenständige Formensprache stand zunächst im Widerspruch zur offiziellen Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus und führte zu teils heftiger Kritik, bis hin zu seiner Entlassung aus der HGB. Erst ab den 1970er-Jahren wurde sein metaphorisch aufgeladenes Werk allmählich akzeptiert. Trotz prestigeträchtiger Aufträge – etwa dem monumentalen Panoramagemälde Frühbürgerliche Revolution in Deutschland (1976–1987) in Bad Frankenhausen – blieb Tübkes Kunst umstritten und wurde zuletzt im deutsch-deutschen „Bilderstreit“ um die Staatskunst der DDR erneut kontrovers diskutiert, ausgelöst durch ein Interview des Malers Georg Baselitz im Jahr 1990.
Ein Rundgang durch die Ausstellung

Die Ausstellung gliedert Tübkes zeichnerisches Werk in fünf thematische Kapitel, die seine Motive und inhaltlichen Schwerpunkte strukturieren.
Tübkes Selbstdarstellungen dienten der Selbstvergewisserung und finden sich häufig in Form von Stellvertreterfiguren wie Narren oder Harlekinen – Gestalten jenseits gesellschaftlicher Konventionen, Sinnbilder künstlerischer Freiheit. In Harlekin am Strand (1965) jedoch scheint sich der Maskierte nicht aus eigener Kraft – oder aus eigenem Willen – aus dem Wirrwarr vom Wind entwurzelter Bäume und Äste befreien zu können. In Straße in Brüssel (mit Selbstbildnis) (1965) verortet sich der Künstler zwischen NATO-Soldaten und Prostituierten, zwischen kühler Sachlichkeit und barocker Sinnenfreude – eine Zeichnung zwischen sozialer Beobachtung und innerer Standortsuche.
Die Zeichnung Am Strand bei Suchumi (1961) steht exemplarisch für Tübkes künstlerischen Ansatz: Der Künstler zeigt sich als rückwärtig platzierter Beobachter, vor ihm entfaltet sich eine Szene zwischen realistischer Gegenwart und rätselhafter Vision.
Tübke setzte sich immer wieder mit historischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen auseinander und überführte sie in dichte, symbolisch aufgeladene Bildwelten. Zwar scheinen Titel und figürliche Darstellung auf die Ideale der DDR-Kulturpolitik einzugehen, doch statt geschönter Historienmalerei entstehen Werke, die – im Rückgriff auf kunsthistorische Vorbilder – grundlegende Menschheitsfragen thematisieren. Die Federzeichnung Zu „Weißer Terror in Ungarn“ (1957) etwa erinnert mit ihrer Darstellung eines Lynchmords – ein Verweis auf den ungarischen Volksaufstand von 1956 – an klassische Kreuzigungsszenen.

Als zentrales zeitgeschichtliches Werk gilt der Zyklus Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze (1965–1967), der ohne offiziellen Auftrag entstand: In elf Gemälden, 15 Aquarellen und rund 65 Zeichnungen – von denen sieben in der Ausstellung zu sehen sind – setzt sich Tübke schonungslos kritisch mit der nationalsozialistischen Justiz auseinander. Die fiktive Figur des Richters Schulze steht dabei exemplarisch für jene Juristen, die auch nach 1945 in der DDR wie in der Bundesrepublik weiter tätig waren.
Mehrere Studienreisen führten Tübke ab 1961 in die Sowjetunion, nach Zentralasien, Bulgarien und Italien. Sie prägten sein Werk tiefgreifend. Für ihn war Landschaft nie nur Kulisse, sondern Träger historischer, mythischer und kultureller Bedeutungen. In Ikarus über dem Witoscha-Gebirge (1980) etwa stürzt die antike Figur in die bulgarische Bergwelt – einst als Thrakien die Heimat des Spartakus. Die Motivverknüpfung wurde als künstlerische Vorahnung des Scheiterns der sozialistischen Utopie gelesen. Auch das Aquarell Beerdigung im winterlichen Tienschan-Gebirge (1962) geht über das rein Dokumentarische hinaus: In der Mischung aus Beobachtung und Imagination zeigt sich ein muslimischer Trauerzug in erhabener Berglandschaft.
Ab den späten 1970er-Jahren wandte sich Tübke zunehmend von der gesellschaftlichen Realität der DDR ab. Es entstanden Werke, die sich aus mythologischen, biblischen, märchenhaften und alltäglichen Quellen speisen – rätselhafte „Fabeln“, direkt aus dem zeichnerischen Prozess heraus entwickelt. Sie stehen in der Tradition des „Capriccio“ – einer Kunst des Spielerischen, Mehrdeutigen und Befremdlichen.
In Der Tod des Zauberers (1984) versammelt sich eine rätselhafte Rokoko-Gesellschaft um einen toten Magier – möglicherweise ein Selbstbildnis des Künstlers. Engel, Harlekine, Verhüllte und körperlich Versehrte bevölkern sein Welttheater. In Verkündigungsengel (1977) oder Heimkehr verlorener Kinder (1978) thematisiert Tübke mit großer innerer Dringlichkeit persönliche Erfahrungen, etwa die Entfremdung von seinen Kindern nach der Trennung von seiner ersten Frau – dargestellt in der Pose einer Passionsfigur.
Tübke hob in seinen Arbeiten die Grenzen der Zeit auf: Stilistisch und ikonografisch griff er auf ältere Kunsttraditionen zurück und verwandelte deren Motive zu neuen, vieldeutigen Bildaussagen – ohne bloß zu zitieren. In Alltagsszenen wie Vier Musikanten (1986) verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer zeitenlosen Erzählung. Auch in seinen Porträts begegnet uns der Mensch mit großer Unmittelbarkeit und Sensibilität. Selbst historische Figuren wie Ignatius von Loyola (1987) erscheinen in seiner Darstellung als Zeitgenossen.
Tübkes lebenslange Parteinahme für die Verlierer der Geschichte und gesellschaftlichen Außenseiter zeigt sich eindrucksvoll in der Zeichnung Lourdes (1977): Mit großer Empathie setzt er einem verzweifelten, kranken Pilger ein stilles Denkmal. Der Titel verweist auf den berühmten französischen Wallfahrtsort, wo der Legende nach 1858 die Jungfrau Maria einem Mädchen erschienen sein soll.
(Städel Museum /Diether von Goddenthow RheinMainKultur.de)
Katalog: Zur Ausstellung istein reich bebilderter Katalog „Werner Tübke Metamorphosen. Die Sammlung Beaucamp“ mit einem Vorwort von Philipp Demandt und Texten von Eduard Beaucamp, Regina Freyberger und Herwig Guratzsch, deutsche Ausgabe, erschienen. Sehr empfehlenswert!
158 Seiten, 25,50 Euro (Museumsausgabe).
Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main
Information: staedelmuseum.de
Besucherservice: +49(0)69-605098-200, info@staedelmuseum.de
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr, Sa, So + Feiertage 10.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr
Sonderöffnungszeiten: Aktuelle Informationen zu besonderen Öffnungszeiten unter staedelmuseum.de
Tickets und Eintritt: Di–Fr 16 Euro, ermäßigt 14 Euro, Sa, So + Feiertage 18 Euro, ermäßigt 16 Euro; jeden Dienstag ab 15.00 Uhr 9 Euro; freier Eintritt für Kinder unter 12 Jahren. Gruppen ab 10 regulär zahlenden Personen 16 Euro pro Person. Für alle Gruppen ist generell eine Anmeldung unter Telefon
+49(0)69-605098-200 oder info@staedelmuseum.de erforderlich.
Überblicksführungen: Regelmäßige, einstündige Führungen in der Ausstellung. Jeden 2. und 4. Sonntag,
14.00 Uhr, 5 Euro zzgl. Eintritt. Tickets erhältlich online unter staedelmuseum.de/de/tickets. Aktuelle Informationen zu den Überblicksführungen unter staedelmuseum.de