
Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert ist die Inhaberin der 24. Johannes Gutenberg- Stiftungsprofessur. An der Universität Mainz wird sie in einer öffentlichen Vorlesungsreihe im Sommersemester 2024 in zehn Vorträgen ethische Fragen der modernen Medizin, um die gegenwärtig gerungen wird, diskutieren und erhellen. Die Vorlesungsreihe begann mit der Eröffnungsveranstaltung „Demenz: Darf ich über mein späteres Ich bestimmen?“
Schwerpunkt von Prof. Dr. Schöne-Seiferts Vortrag war die Frage nach „Demenzvorsorge in der Patientenverfügung“, mit der Kernfrage, ob eine heute im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte getroffene Regelung in der Patientenverfügung noch gilt, wenn der Verfasser – anders als angenommen – ein glücklich Dementer wäre.
Die fiktive Demenz-Figur Margo.

Um das Thema einzuleiten, möchte präsentierte die Stiftungsprofessorin ein imaginäres Beispiel, nämlich der Patientin „Margo“. „Diese fiktive Figur wurde von dem US-amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin (1931–2013) in seinem bahnbrechenden Werk „Life’s Dominion“ erschaffen. In den letzten Kapiteln seines Buches thematisiert er die Frage der Vorausverfügung bei Demenz. Die Figur der Margo basiert auf wenigen gelesenen Zeilen über eine echte Person, die Dworkin dann weitergedacht und ausgeschmückt hat.
Margo ist eine Demenzpatientin im fortgeschrittenen Stadium, die zu einem früheren Zeitpunkt, als sie noch im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten war, eine Patientenverfügung speziell für den Fall einer Demenzerkrankung verfasst hat. Ihr Zustand verschlechterte sich im Laufe der Zeit: Sie konnte nicht mehr sinnerfassend lesen, las immer wieder dasselbe Buch, erkannte Menschen nicht wieder und malte in einem Zeichenkurs für Alzheimerpatienten stets dasselbe Bild. Dennoch schrieb ein Medizinstudent, der eine echte Margo kannte, in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift, dass er noch nie einen glücklicheren Menschen getroffen habe.“ zitierte die Wissenschaftler und formulierte, worum es am heutigen Abend gehen werde, nämlich:
„Hat Margos Patientenverfügung in diesem Fall noch Bindungskraft?“ Diese Frage stelle sich besonders, so Schöne-Seifert, wenn man an Walter Jens denke, den bekannten Rhetorikprofessor und Intellektuellen aus Tübingen. Jens erkrankte 2003 an Demenz und verstarb zehn Jahre später. Zeit seines Lebens war er ein vehementer Verfechter der Patientenverfügung und der aktiven Sterbehilfe. In seiner eigenen Verfügung hatte er festgelegt, dass er nicht mehr behandelt werden wolle, sobald er nicht mehr kommunizieren könne. Dennoch wurde er im Laufe seiner Erkrankung mehrfach behandelt und operiert. Seine Frau berichtete später, dass sie sich immer wieder fragte: Hat diese Patientenverfügung tatsächlich noch Bindungskraft?
Professorin Bettina Schöne-Seifert thematisierte eine besondere Konstellation im Zusammenhang mit Patientenverfügungen, die sich aus zwei zentralen Aspekten ergibt: einer dauerhaft verlorenen Einwilligungsfähigkeit und einer gleichzeitig bestehenden subjektiven Lebenszufriedenheit – ein Zustand, den er als die „glückliche Margo“ bezeichnete. Diese Konstellation unterscheide sich von anderen Situationen, in denen Patientenverfügungen für Phasen der reversiblen Einwilligungsunfähigkeit verfasst werden. Es gebe Menschen, die vorübergehend nicht einwilligungsfähig seien, später jedoch ihre Entscheidungsfähigkeit wiedererlangten. Außerdem sei der Fall nicht vergleichbar mit Patienten, deren kognitive Einschränkungen so schwerwiegend seien – beispielsweise Apalliker oder Komapatienten –, dass man nicht mehr von einer Lebenszufriedenheit sprechen könne. Auch bei Demenzpatienten sei die Situation unterschiedlich zu bewerten: Nicht alle würden als glücklich wahrgenommen.
Die Stiftungsprofessorin betonte, dass es ihm nicht darum gehe, ein Plädoyer für Patientenverfügungen in solchen Demenzfällen oder speziell im „Margo-Fall“ zu halten. Sie wolle nicht bewerten, ob das Verfassen solcher Verfügungen richtig oder falsch sei. Vielmehr stelle sich die Frage, was mit solchen Verfügungen geschehe, wenn sie existieren, und wie mit ihnen umgegangen werden solle.
Sie wies darauf hin, dass die Zahl solcher Verfügungen in Zukunft vermutlich steigen werde, insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl an Demenzkranken. Zur Veranschaulichung nannte Schöne-Seifert aktuelle Zahlen: In Deutschland gebe es derzeit rund 1,8 Millionen Demenzkranke, mit jährlich 420.000 Neuerkrankungen. Hochrechnungen zufolge könnte diese Zahl bis 2050 auf 2,8 Millionen steigen – vorausgesetzt, es werde bis dahin keine wirksame Prävention oder Therapie entwickelt. Auch weltweit sei der Trend ähnlich: Nach Angaben der WHO lebten derzeit etwa 60 Millionen Menschen mit Demenz, mit jährlich zehn Millionen neuen Diagnosen. Allerdings variierten diese Zahlen je nach Lebenserwartung und diagnostischen Möglichkeiten.
Die ethische Kontroverse: Hat Margos Demenzverfügung Bindungskraft oder nicht?
Schöne-Seifert erläuterte, dass es unter Ethikern eine klare Kontroverse darüber gebe, ob eine Patientenverfügung in einem solchen Fall moralische Gültigkeit besitzen solle.
Die Argumente gegen eine Bindungskraft:
Eine Gruppe von Ethikern vertrete die Auffassung, dass die demente Margo nicht mehr dieselbe Person sei wie diejenige, die die Verfügung ursprünglich verfasst habe. Die aktuelle Margo könne den Inhalt der Verfügung nicht mehr verstehen, da sie keine komplexen Sachverhalte mehr erfassen könne. Es stelle sich daher die Frage, warum eine Verfügung für sie bindend sein solle.
Die Argumente für eine Bindungskraft:
Die Gegenseite hingegen betrachte es als moralisch untragbar, einer solchen Verfügung die Gültigkeit abzusprechen. Dies würde bedeuten, den früheren Willen der Person zu ignorieren und stattdessen für die nun demente Patientin zu entscheiden, so Schöne-Seifert.
Die Stiftungsprofessorin verwies auf eine Umfrage aus dem Jahr 2016, die an 800 Personen durchgeführt worden sei – darunter Angehörige, Pflegekräfte, Ärzte und Laien. Das Ergebnis habe gezeigt, dass 25 % der Befragten sich gegen die Bindungskraft einer solchen Vorausverfügung ausgesprochen hätten. Mit anderen Worten: Ein Viertel der Befragten habe dafür plädiert, eine Verfügung wie im „Margo-Fall“ nicht zu befolgen und sie stattdessen zu verwerfen.
Juristische Uneinigkeit

Auch unter Juristen gebe es keine einheitliche Meinung zu dieser Frage, bekannte die Wissenschaftlerin.
Schöne-Seifert verwies auf die Gesetzesbegründung zur Patientenverfügung aus dem Jahr 2009. Dort werde gefordert, zwischen dem aktuellen Willen der dementen Person und dem früheren, in der Verfügung festgelegten Willen abzuwägen. Diese Sichtweise sei später von einem Obiter Dictum (Grundsatzurteil) eines hohen Gerichts aufgegriffen worden. Einige Juristen argumentierten daher, dass die Einwilligungsunfähigkeit in einer „humanen Weise“ interpretiert werden müsse.
Allerdings scheine die Mehrheit der Juristen eine andere Position zu vertreten: Sie argumentierten, dass eine Patientenverfügung genau dazu diene, ohne Abstriche umgesetzt zu werden. Eine nachträgliche Abwägung sei nicht vorgesehen, da dies die ursprüngliche Intention der Verfügung untergraben würde.
Die Wissenschaftlerin wies darauf hin, dass selbst offizielle Stellen uneinheitliche Hinweise dazu gäben. So werde in den Informationen des Bundesministeriums für Familie, Senioren usw. betont, dass Ärzte abwägen müssten, ob der aktuelle Wille der dementen Person oder der frühere, in der Verfügung festgehaltene Wille maßgeblich sei. Auch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft erkenne diesen Konflikt an und vertrete ausdrücklich die Ansicht, dass der aktuelle Wille der dementen Patientin Vorrang vor der früheren Verfügung haben solle.
Fazit
Abschließend machte die Stiftungsprofessorin deutlich, dass es sich um eine hochkomplexe ethische und juristische Fragestellung handele. Die Diskussion über Demenzverfügungen werfe grundlegende Fragen zu Identität, Autonomie und moralischer Verantwortung auf, für die es bislang keine allgemeingültige Antwort gebe.
Anschließend befragte die bekannte Moderatorin Petra Gerster die Wissenschaftlerin über offen gebliebene Fragen, gefolgt von der Öffnung des Plenums für Fragen aus dem Publikum.
(Dokumentation Diether von Goddenthow /RheinMainKultur.de)