
Bei jährlich 5000 Baustellen und dem daraus resultierenden, gefühlt täglichen „rasenden Stillstand“ auf Wiesbadens Straßen käme wohl kaum jemand auf die Idee, diesen Szenarien etwas Positives abgewinnen zu können. Genau das versuchte die IHK Wiesbaden bei ihrem diesjährigen Neujahrsempfang am 22. Januar 2025 im Erbprinzenpalais, indem sie – augenzwinkernd – aus der Not eine Tugend machte und ihre 350 Gäste symbolisch unter dem Motto „Neu machen!“ inmitten einer Baustellenkulisse begrüßte.
Als einer der ersten machte sich IHK-Präsident Jörg Brömer nach der Begrüßung der Gäste aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft gemeinsam mit Hauptgeschäftsführerin Sabine Meder für einen solchen Perspektivenwechsel stark: Denn „man kann eine Baustelle auch als Chance wahrnehmen! Oft genug muss Altes weichen, damit Neues entstehen kann.“ Mal auf die andere Seite der Medaille zu schauen, kam bei den Gästen sehr gut an. In seiner, immer wieder von Zwischenapplaus begleiteten Rede sparte er weder besorgniserregende Entwicklungen wie die Rezession im dritten Jahr infolge, schrumpfende Exporte, sinkende Unternehmensinvestitionen, Beschäftigungsrückgang, eine marode Infrastruktur, noch langsame Verwaltungsprozesse aus. Aber alles Jammern, so Brömer, nütze ja nichts: „Es gilt, nicht zu jammern, sondern anzupacken.“ Diesen Aufruf unterstrich er durch seinen Auftritt in Bauhelm und Warnweste. „Unsere Wirtschaft schrumpft. Da heißt es: Nicht jammern, sondern anpacken. Lassen Sie uns die Dinge neu machen!“, appellierte Brömer.
Der konstruktive Ansatz stieß bei den Gästen, unter ihnen Landtagspräsidentin Astrid Wallmann, Hessens Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori und Hessens Finanzminister Dr. Alexander Lorz, auf Zustimmung. Im „Baustellen-Gespräch“ mit Moderator Tobias Radloff erklärte der Wirtschaftsminister, seine Vorhaben seien „auf einem guten Weg“. Exemplarisch nannte er die kostenfreie Meister-Weiterbildung und eine „Schnupper-Praktika“-Initiative, die als Instrumente zur Verbesserung der Ausbildungszahlen dienten. Zudem arbeite man mit „hohem Tempo“ an der Digitalisierung: Als erstes Bundesland habe Hessen mit dem Rheingau-Taunus-Kreis ein voll digitalisiertes Baugenehmigungsverfahren realisiert. Ein Fortschritt, den später auch Sandro Zehner, Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises, als Gesprächsgast auf der „Baustellen“-Bühne zu würdigen wusste.
Sabine Meder, Hauptgeschäftsführerin der IHK Wiesbaden, skizzierte für 2025 den Wunsch nicht nur nach einem größeren Zuspruch der dualen Ausbildung, sondern auch nach einer stärkeren Ausbildungsbereitschaft seitens der Betriebe. Dass sich die Anzahl der Auszubildenden im vergangenen Jahr erneut reduziert habe, erfordere ein Gegensteuern, so die Hauptgeschäftsführerin.
Zunehmende Unternehmensinsolvenzen in Hessen, eine achtprozentige Arbeitslosenquote in Wiesbaden und ein regionaler Geschäftsklimaindex von 92 Punkten, der die schrumpfende Wirtschaft anzeigt – diese Bestandaufnahme konnte der Kammerpräsident den Gästen nicht ersparen. Und er monierte, dass sich seit 2013 nicht allein die Anzahl der Beamten in den Bundesministerien um fast 50 Prozent erhöht habe. Auch in Hessen seien durch die Schaffung zweier neuer Ministerien und weiteren Staatssekretären zusätzliche Kosten in Höhe von mehr als 13 Millionen Euro jährlich entstanden, beklagte Brömer. An die Adresse der Landesminister richtete er den Appell: „Geben Sie uns Unternehmen Rückenwind und zeigen Sie uns, wie eine effiziente, schlanke Verwaltung aussieht.“
Für ein „neues Denken“ plädiert Jörg Brömer unter anderem in den Bereichen Mobilität, Bürokratie, der Fachkräftegewinnung und der Digitalisierung. Mit dem Heimathafen im Alten Gericht habe Wiesbaden einen „zugkräftigen Ort“ für Start-Up-Unternehmen, so Brömer. Ideen zur Transformation der Stadt einschließlich Fußgängerzone solle offener begegnet werden, weg von Besitzstandswahrung. Brömer erhofft sich wichtige Impulse zur Attraktivitätssteigerung durch „World Design Capital 2026“: Es werde Zeit, „jetzt richtig loszulegen und aus dieser außergewöhnlichen Chance für unseren Standort etwas zu machen“.
Vieles müsse neu überdacht werden – insbesondere in Bezug auf ein Mobilitätskonzept, das nicht nur die Reform des ÖPNV durch den neuen Nahverkehrsplan einschließt, sondern alle Verkehrsteilnehmer berücksichtigt. Auch der Abbau von Bürokratie sei dringend notwendig, wofür Regularien häufiger überprüft und die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequenter genutzt werden müssten. „Eine effiziente und schlanke Verwaltung verleiht den Unternehmen Rückenwind!“
Bei der Erwähnung der IHK-Kampagne „27 % von uns“ bekam der Kammerpräsident spontanen Applaus. Die Aktion sei als klare Absage an Antisemitismus und Rechtsextremismus ein wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs: „27 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund und sind unverzichtbarer Teil unsere Gesellschaft und unserer Wirtschaft“, erklärte Brömer.
Entschlossenheit attestiert er der Stadtpolitik beim „Ostfeld“-Vorhaben, beklagt jedoch, dass bei dem Projekt keinerlei Gewerbeflächen vorgesehen seien. „Eine große Fehlentscheidung“, urteilt er, und erneut kommt vereinzelter Applaus auf. Bei allem, was es neu zu schaffen gelte, „müssen wir Klimaschutz und Nachhaltigkeit fest im Blick behalten“, mahnt der IHK-Präsident.
Landrat Sandro Zehner, der den Rheingau-Taunus-Kreis als „liebevoll um die Stadt Wiesbaden liegenden Kragen“ bezeichnet, treibt im Bühnengespräch die steigende Anzahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus allen Gesellschaftsschichten um. „Diese Baustelle hätte ich gerne geschlossen, damit Kinder zu gesunden Erwachsenen heranwachsen können“, sagte Zehner, der im Zusammenhang mit den kommunalen Sozialausgaben eine Unterfinanzierung des Kreises von 150 Millionen Euro beklagt. Um die vorhandene Finanzierung besser zu nutzen, regte er noch mehr interkommunale Zusammenarbeit an, die von gemeinsam genutzten Personalstrukturen sowie dem Einsatz Künstlicher Intelligenz profitieren könnte.
Im anschließendem Talk mit Moderator Tobias Radloff unterstrich Hessens Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori (SPD), dass der Mangel an Arbeits- und Fachkräften eine ernstzunehmende Wachstumsbremse sei. Er betonte, dass Wirtschaftspolitik nicht aus dem Elfenbeinturm heraus gestaltet werden dürfe. Aus diesem Grund habe das Land die Zahl der Ausbildungsplätze für Erzieherinnen und Erzieher verdoppelt, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, so Mansoori. Zudem sei die Meisterausbildung kostenfrei gemacht worden, um Leistung zu belohnen und die Gründung neuer Betriebe zu fördern.
Ähnlich wie zuvor Wirtschaftsminister Mansoori hielt sich auch Zehner auf der blumengeschmückten „Baustellen“-Bühne mit Prognosen oder Wünschen für den neuen Bundestag, der Ende Februar gewählt wird, zurück. Auffällig war, dass Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende zwar den Neujahrsempfang besuchte, jedoch nicht sprach – ein Verzicht, der dem laufenden Wahlkampf zur Oberbürgermeisterwahl Anfang März geschuldet ist. In diesem Zusammenhang lädt die Industrie- und Handelskammer am 11. Februar zur „IHK-Wahlarena“ ein, bei der alle zehn Kandidatinnen und Kandidaten die Gelegenheit haben werden, ihre Positionen darzulegen.
Den feierlichen Abschluss des Abends gestaltete der 19-jährige Pianist Andreas Salaru, der das Bühnenprogramm mit seiner beeindruckenden musikalischen Darbietung bereicherte. Im Anschluss erkundeten die geladenen Gäste die mit kulinarischen Angeboten ausgestattete Baustellenkulisse im Palais an der Wilhelmstraße. Mit anhaltendem Applaus bekräftigten sie außerdem den Appell von IHK-Präsident Jörg Brömer, die Möglichkeit zur Stimmabgabe bei den anstehenden Wahlen zu nutzen. Brömer äußerte die Hoffnung auf „stabile Mehrheiten“ nach der Bundestagswahl, da „politische Klarheit die Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Stabilität“ sei.
(IHK Wiesbaden / Diether v. Goddenthow )