„Ich muss mich erst mal sammeln Jakob Lena Knebl, Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Landesmuseums Darmstadt“ Leider ohne Beschriftungen!

„Kurioses mit Kunstvollem, Alttägliches mit Außergewöhnlichem. Alles soll unvoreingenommen wahrgenommen werden können“, so die Intention für die Installation der Themen-Insel „Durchblick“ der Sonderausstellung: Ich muss mich erst mal sammeln Jakob Lena Knebl, Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Landesmuseums Darmstadt vom 15. November 2024 bis 16. Februar 2025. © Foto: Diether von Goddenthow

Vom 15. November 2024 bis zum 16. Februar 2025 präsentiert das Hessische Landesmuseum Darmstadt (HDML), Friedensplatz 1, die ungewöhnliche Sonderausstellung „Ich muss mich erst mal sammeln“ der Künstler Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata. Darin kreieren sie spektakuläre Installationen zwischen Kunst und Design mit skurrilen Rauminstallationen eigener und ausgewählter Exponate quer durch 200 Jahre Sammlungsgeschichte des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Ein Manko sind fehlende Beschriftungen. Das ist aber durchaus gewollt.

Manchmal sei es gut, die „Dinge ein bisschen etwas zu verrücken, um einen anderen Blick auf etwas zu bekommen, und dann Dinge (neu) zu entdecken, erläutert Künstlerin Jakob Lena Knebl, Professorin für Transmediale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Gemeinsam mit dem Fashiondesigner und Lehrbeauftragten derselben Uni, Markus Pires Mata, wurde sie vom Hessischen Landesmuseum (HLMD) eingeladen, aus den universalen Sammlungen des HLMD Darmstadt eine persönliche Auswahl zu treffen und diese mit eigenen Werken in einer großen Rauminstallation zu inszenieren. Und was da alles in den Depots des ehrwürdigen über 200 Jahre alten Hauses zutage kam, erstaunte selbst Projekt-Initiatorin Dr. Gabriele Mackert, HLMD-Sammlungsleiterin für Kunst 18.–21. Jh., und Anika Manthey, kuratorische Assistentin: Denn es wurden „tatsächlich in den Depots Sachen gefunden, die die Kolleginnen oder teilweise auch ich noch nicht mal in Augenschein genommen hatten.“, so die Kuratorin. Es seien durch Knebls und Matas Stöbern „Dinge hervorgetreten, die gar nicht inventarisiert sind“. Es seien Dinge entdeckt worden, „die inventarisiert sind, von denen man dachte ‚‘Warum?‘: ‘Was ist das für ein Gegenstand?‘, ‘Warum ist der überhaupt in die Sammlung gekommen?‘, ‘Stellt er tatsächlich ein sammlungswürdiges Gut dar?‘, ‘Wie wertvoll ist diese Flasche?‘. Es habe aber sehr viel Spaß gemacht, und im Team habe man auch gemerkt, so Mackert, „dass diese ungewöhnliche Herangehensweise doch auch für Lockerheit gesorgt hat“, eine Lockerheit von der das gesamte Museumsteam und die Künstlerinnen Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata hoffen, „dass die Besucher*Innen dies auch in der Ausstellung genießen werden.“

Installation „Flowers of Romance“ der Sonderausstellung: „Ich muss mich erst mal sammeln Jakob Lena Knebl, Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Landesmuseums Darmstadt vom 15. November 2024 bis 16. Februar 2025.  © Foto: Diether von Goddenthow

Fantasievoll durch 200 Jahre Kunstgeschichte
Sie seien eigentlich ja „ Berufsjugendliche“, und „wir wollen diese jugendliche Begeisterung auch so ein bisschen bei den Besucher*Innen herauslocken“, so Jakob Lena Knebl. „Wir wollen die Begeisterungsfähigkeit ein wenig „triggern bei den Besucher*Innen, indem wir ganz stark mit Humor arbeiten“. Denn „Humor ist eine machtvolle Methode eigentlich, und eigentlich gar nicht so harmlos“, so die Künstlerin. Einem Lachen könne man sich nicht verwehren: Sie „schaffen in der Ausstellung Hybride, stellen Dinge ungewöhnlich zusammen.“

Es sei „ in der Tat eine Ausstellung, die mit den Objekten unseres Hauses gemacht ist, in die die Künstler eigene Werke hineingestellt haben, und die in ganz besonderer Weise die Vielfältigkeit unserer Sammlung zum Glänzen, zum Leuchten bringt, indem sie die Objekte in ganz neue Kontexte stellt, freut sich Museumsdirektor Dr. Martin Faass beim Presserundgang. Im 480 qm großen Ausstellungssaal, der bei vielen Ausstellungen, z.B. „Tod und Teufel“, zumeist düster und dunkel gehalten wird, haben die Künstler Licht hereingelassen und eine großzügige befreiende Raumordnung entworfen, in der sich, je nach eingenommener Betrachtungsperspektive, Bedeutungen und (Be-)Wertungen von Objekten wandeln können. Denn wenn man irgendwo durch eine der unzähligen auf den Themeninseln platzierten Collagen hindurchblicke, rückten automatisch die dahinterstehenden Dinge mit ins Blickfeld, so dass sie „mit jeder Bewegung die Ausstellung animieren“, erläutert Knebl. Die Ausstellung werde also nie langweilig. Durch diese ungewöhnlichen Platzierungen lassen die Collagen immer wieder neue Wahrnehmungsräume zu, die zum freien Assoziieren einladen. Damit steigern Knebl und Pires Mata nicht nur die provokanten Effekte ihrer subjektiven, lustvoll assoziativ getroffenen Auswahl, sondern regen zum Dialog der Diversität an.

Das Hessische Landesmuseum ist das einzige Universalmuseum der Welt
Die Ausstellung provoziert, emotionalisiert, plakatiert und macht zugleich Lust, auch Sammlungen der Dauerausstellungen des HDML zu erkunden, angefangen von der Archäologie und Kunst des Mittelalters über die Gemäldegalerie, Graphische Sammlung, Kunsthandwerk und Block Beuys, bis hin zum Jugendstil. Und in der Sparte Naturgeschichte: von den Darmstädter Dioramen und der Geologie über Grube Messel und Mineralogie bis hin zur Paläontologie und Zoologie.

Dieses breite Themen-Spektrum innerhalb eines Museums ist einmalig in der Welt. Seit in den 1990er Jahren ein dem damaligen Zeitgeist anhaftender Museums-Direktor im Wiesbadener Landesmuseum die gesamte Archäologische Abteilung der Sammlung Nassauischer Altertümer mit über 200 000 Exponaten entfernen ließ, ist das Hessische Landesmuseum Darmstadt wirklich das weltweit einzige noch erhaltene Universalmuseum der Welt. „Das Hessische Landesmuseum ist wirklich einmalig. Es bringt unsere ganze Geschichte zusammen. Und das ist das Großartige am Hessischen Landesmuseum, und uns eine große Ehre und Freude gewesen, hier arbeiten zu dürfen mit einem riesig großen Team, mit ganz viel Fachwissen“, begeistert sich Knebl für das Darmstädter Forschungs-Museum (HDML) mit seiner international geschätzten wissenschaftlichen Expertise. „Insbesondere in Zeiten von Fake News sei es wichtiger denn je, für die Wissenschaftler zu kämpfen“, so die Künstlerin.

Die Ausstellung

Installation „Birkenzimmer“ der Sonderausstellung: „Ich muss mich erst mal sammeln
Jakob Lena Knebl, Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Landesmuseums Darmstadt“ vom 15. November 2024 bis 16. Februar 2025. © Foto: Diether von Goddenthow

„Auf den ersten Blick mag einiges chaotisch wirken, doch gerade in dieser spielerischen und eben nicht systematischen Herangehensweise steckt der Reiz: Kunst, Design, Möbel, Natur und Alltagskultur begegnen sich auf Augenhöhe – nicht die wissenschaftliche Betrachtung, sondern persönliche Vorlieben und Assoziationen stehen im Vordergrund. Die Ausstellung bringt Kategorien durcheinander und macht dadurch Neues möglich. Hier wird Lust auf das Entdecken gemacht und anderes erscheint wie neu.“, so die Kuratorin im per QR-Code herunterzuladenden Einführungstext. „Insgesamt sind knapp 300 Objekte von rund 60 Künstler*innen und Gestalter*innen aus der Sammlung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt sowie Skulpturen von Jakob Lena Knebl zu sehen. Darunter Objekte, die erstmals gezeigt werden sowie solche, die lange nicht gezeigt und wiederentdeckt wurden“, so der Text. Der Werbe-Flyer listet die berühmten Künstler auf, macht Appetit, in der Ausstellung sind sie nicht beschriftet und nur für Kenner sofort identifizierbar.

Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata kreieren spektakuläre Installationen zwischen Kunst und Design. Hier im von Marcel entworfenen Eingangsportal für die Pariser Galerie des Surrealisten André Breton. © Foto: Diether von Goddenthow

Als Künstler-Designer*innen sind Knebl und Pires Mata Spezialist*innen der Inszenierung. So fotografierte sich Knebl 2011 in Anspielung auf Joseph Beuys‘ revolutionären Kunstbegriff als »Fettecke« und präsentiert ihre Hommage nun im Treppenhaus. Die ausladenden Körperformen von Henri Laurens voluminöser Skulptur »Große Badende« formte sie in gelbem Kunststoff und mit einer comichaften Perücke nach. In Darmstadt begegnen sich die beiden Skulpturen nun zum ersten Mal.

Jüngst ließ sie die mittelalterliche Skulptur der Maria Magdalena des Ulmers Gregor Erhart zur Hälfte in Bronze gießen. Die Nackte ohne Vorderteil erweist sich als erstaunlich geschlechtsneutral. In ihrer Darmstädter Ausstellung kombiniert Knebl sie mit dem anmutig und selbstbewusst voranschreitenden Christuskind des Vaters, Michael Erhart, dem Daumen von César und Schuhen aus Bergkristall von Marina Abramović. Körperformen und Darstellungen können so über Jahrhunderte verglichen werden.

Knebl und Pires Mata interessieren sich für Grenzüberschreitungen und unser Verhältnis zu den Dingen, die uns umgeben: So wie wir mit unserer Kleidung etwas über uns aussagen, so prägen diese uns. Die beiden Künstler*innen verstehen sich als Transformierende.

Im Hessischen Landesmuseum Darmstadt haben sie eine Raumordnung entworfen, in der sich Bedeutungen und (Be-)Wertungen von Objekten wandeln können. Durch Überlagerungen werden die Objekte vielfältig miteinander verbunden und als Teil unserer unüberschaubaren Natur-, Kultur- und Konsumwelt erlebbar. Damit steigern Knebl und Pires Mata nicht nur die provokanten Effekte ihrer subjektiven, lustvoll assoziativ getroffenen Auswahl, sondern regen zum Dialog der Diversität an.

Sie eröffnen neue Perspektiven auf Vertrautes und fordern uns heraus, Sichtweisen zu hinterfragen. So wird die Ausstellung zu einem ästhetischen Erlebnis über die Beziehungen zwischen Mensch, Objekt und Gesellschaft.

Im begleitenden Podcast ist die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Gabriele Mackert, im Gespräch mit Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata.  30 Minuten entführen sie die Hörerinnen und Hörer aus ihrem Alltag und begeistern beispielsweise  für Tiere, Körperformen, Märchen und Mode, wie es heißt.

„Schule des Sehens“ statt Beschriftungen
Die Ausstellung verzichtet auf Beschriftung und für die Besucherinnen und Besucher stehen QR-Codes mit Information zu den Installationen zur Verfügung. Ebenso eine Videoführung mit Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata. Der Verzicht auf die Beschriftungen der Exponate gehöre zum Ansatz der Ausstellung: „Die Ausstellung ist eine Schule des Sehens, bei der die Künstler*Innen den ‚Reflex , Beschriftungen sehen zu wollen‘, von vornherein mit guter Begründung zurückgewiesen haben, indem sie gesagt haben: ‚Die Leute sollen sich das mal angucken. Die sollen nicht erst einmal auf das Schild schauen, um zu identifizieren, was es ist, welche Epoche, welche Künstler, welcher Fundort, sondern sie sollen ein bisschen ratlos (vielleicht) davor stehen, um sich dann genauer auf die Objekte einzulassen, um besondere Qualitäten darin zu entdecken.“, erläutert Dr. Martin Faass den transanalytischen Ansatz des Künstlerpaars Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata.
Sie, Knebl und Mata, möchten hiermit vor allem, so Knebl, auch bildungsfernere Schichten, insbesondere (junge) Menschen der Working-Class, die nicht mit Kunst und Büchern aufwuchsen, für das Erlebnis Museum begeistern und gewinnen, den Zugang zur Kunst ein wenig demokratisieren. Zudem gibt es jeweils einen QR-Code, der hilft, sich per Handy selbst kundig zu machen. Dies spreche junge Menschen ohnehin mehr an.

In der Installation Castel del Monte verbindet die Installation auf einzigartige Weise Elemente der Architektur, Natur und Symbolik zu einer poetischen Erkundung von Vergänglichkeit und Veränderung in der Sonderausstellung: Ich muss mich erst mal sammeln Jakob Lena Knebl, Markus Pires Mata und die Sammlungen des Hessischen Landesmuseums Darmstadt vom 15. November 2024 bis 16. Februar 2025. © Foto: Diether von Goddenthow

Aber sieht man nicht nur, was man weiß?
Ich teile den Ansatz „Schule des Sehens“ so nicht: Denn ist es mit dem „Sehen“ nicht eher so, wie Goethe schon wusste: „Man sieht nur, was man weiß“? Und sind nicht Beschriftungen zur Identifizierung von Exponaten als Orientierungshilfe unverzichtbares Wissen zum Verständnis einer jeden Ausstellung und Installation. Bedeutungs-Zuschreibungen (Attribuierungen wie Beschriftungen) und Kategorisierungen sind nun mal Grundlage menschlichen Denkens und würden ja gar nicht den assoziativen Ansatz der nach Beuys orientierten Schule des Sehens infrage stellen, sondern diesen sinnvoll ergänzen und somit die Ausstellung vervollständigen, ihren Zugang sogar noch demokratischer machen, da mit Beschriftungen jeder selbst entscheiden kann, welche Herangehensweise er bei der Rezeption bevorzugt. Und schützten Beschriftungen, insbesondere von wertvollen Fossilien nicht ein klein wenig davor, als Fake im Internet abgewertet zu werden?  Zudem ist es ja auch eine Frage, ob denn der rasche Museums-Tourist oder der  (heimische) Bildungsbürger genügend Lust und Zeit mitbringt, nachdem sein erstes  Wow-Erlebnis  der Ausstellung verflogen ist,  allein über den digitalen – oft störanfälligen – Umweg eines QR-Codes die Themen-Inseln und No-Name-Stücke der Ausstellung kennenlernen zu sollen?

Empfehlenswert

Dennoch ist die  Ausstellung „Ich muss mich erst mal sammeln“ zu empfehlen als  Gesamtkunstwerk, als Herausforderung,  die einzelnen Exponate zu ergründen, und allen, die einfach Spaß daran haben, die präsentierten und installierten Dinge und ihre unendlich vielen Blickwinkelmöglichkeiten einfach nur schön und inspirierend zu empfinden. Hilfreich bei der Rezeption ist eine gewisse QR-Code-Affinität.  Am einfachsten findet man einen Zugang zur Ausstellung mit fachkundiger Führung.

Zudem regt die Ausstellung  an,  „endlich mal“ oder „mal wieder“ das  Hessischen Landesmuseum Darmstadt zu besuchen, um die  Sammlungsvielfalt des Drei-Sparten-Hauses kennen- und schätzen zu lernen.

(Diether von Goddenthow /RheinMainKultur.de)