Unzensiert. Annegret Soltau – eine Retrospektive – Ab 8. Mai 2025 im Frankfurter Städel Museum

Der Körper ist politisch – das zeigen die Arbeiten der Künstlerin Annegret Soltau (*1946) wirkungsvoll. Seit den 1970er-Jahren erregt ihre Kunst Aufsehen und hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Mit über 80 Werken gibt die Ausstellung einen umfassenden Einblick in ihr vielschichtiges Gesamtwerk: von Zeichnungen über erweiterte Fotografie und Video bis hin zu Installationen. Darunter sind wegweisende, zum Teil bisher noch nicht veröffentlichte Arbeiten aus Soltaus Studio. © Foto: Jutta Ziegler

Der Körper als politische Bühne: Annegret Soltau (*1946) vom 8.5.2025–17.8.2025im Städel Museum.
Annegret Soltaus (*1946) künstlerisches Schaffen zeigt eindrucksvoll: Der Körper ist ein politisches Medium. Seit den 1970er-Jahren sorgt ihre Kunst für Aufmerksamkeit – und hat bis heute nichts an Relevanz verloren. Trotz ihrer kunsthistorischen Bedeutung galt sie lange als Geheimtipp. Heute zählt ihr Werk zu den bedeutendsten Positionen feministischer Fotografie und Body Art.

Über fünf Jahrzehnte hinweg hat sich Soltau mit einer radikal feministischen, eigenständigen Bildsprache gegen Widerstände durchgesetzt und als prägende Stimme der Gegenwartskunst etabliert. Das Städel Museum widmet ihr nun erstmals eine Retrospektive – in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin selbst. Mit über 80 Arbeiten eröffnet die Ausstellung einen umfassenden Einblick in ihr facettenreiches Œuvre: von Zeichnung über experimentelle Fotografie und Video bis hin zu Installationen. Darunter befinden sich zahlreiche Schlüsselwerke, teils erstmals öffentlich gezeigt, ergänzt durch bedeutende Leihgaben renommierter Institutionen wie der Sammlung Verbund (Wien), dem Louisiana Museum of Modern Art (Humlebaek), dem Lenbachhaus (München) und dem ZKM Karlsruhe.

Ein feministisches Lebenswerk

Ausstellungsansicht „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“ © Städel Museum

Zentrale Themen in Soltaus Werk sind Körperpolitik, Feminismus und die Frage nach Identität – insbesondere der weiblichen. Dafür entwickelte sie wegweisende Techniken, die traditionelle Grenzen der Fotografie überschreiten: etwa die Fotovernähung, Fotoübernähung oder Fotoradierung. In Selbstporträts dekonstruiert sie Rollenbilder, hinterfragt gesellschaftliche Normen und visualisiert innere Spannungen und emotionale Zustände. Seit Ende der 1970er-Jahre widmet sie sich künstlerisch den Themen Schwangerschaft und Mutterschaft – lange Zeit Tabus in der Kunst. Auch das Altern und die Vergänglichkeit des weiblichen Körpers sind wiederkehrende Motive. Ihre Werke stießen immer wieder auf Widerstand und Zensur – ein Echo auf ihre kompromisslose Formensprache, die gängige Schönheits- und Darstellungsnormen infrage stellt. Die Ausstellung im Städel Museum versteht sich daher auch als überfällige Anerkennung einer bedeutenden Pionierin feministischer Kunst.

Position und Perspektive

„Mit ihrer radikalen Bildsprache und dem unerschrockenen Blick auf den menschlichen Körper eröffnet Annegret Soltau neue Perspektiven auf Identität, Körperlichkeit und künstlerische Autonomie. Ihre Werke waren ihrer Zeit weit voraus. Diese Retrospektive würdigt ein über fünf Jahrzehnte gewachsenes, konsequent feministisches Werk“, betont Museumsdirektor Philipp Demandt. Svenja Grosser, Leiterin der Sammlung Gegenwartskunst und Kuratorin der Ausstellung, ergänzt: „Soltau hat mit ihren Fotovernähungen eine eigene visuelle Sprache entwickelt. Ihr Werk zeigt den weiblichen Körper als Mittel der Selbstermächtigung. Trotz internationaler Anerkennung blieb sie in Deutschland lange umstritten – das wollen wir korrigieren.“

Ein Rundgang durch das Werk

Die Ausstellung führt chronologisch wie thematisch durch Soltaus Werk. Schon früh konfrontiert sie das Publikum mit Werken, die aufgrund ihrer fragmentierten Darstellung des weiblichen Körpers zensiert wurden. Charakteristisch ist dabei der Einsatz von Nadel und Faden: Fotografien werden zerschnitten und neu vernäht – ein bewusster Bruch mit traditionellen ästhetischen Erwartungen, verbunden mit einer feministisch aufgeladenen künstlerischen Strategie.

Frühe Zeichnungen wie Überzeichnete Frau (1972) und Umsponnene (1973) markieren den grafischen Ursprung ihres fotografischen Schaffens. Es folgen Radierungen mit Linien, Netzen und Haaren als Symbole für Bindung und Einschränkung. In Spinne (1978) konserviert sie echte Spinnweben – ein fragiles, zugleich unausweichliches Geflecht.

Die 1970er-Jahre waren geprägt von gesellschaftlichem Wandel und der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Soltau fand diese in Performance und Fotografie. In Permanente Demonstration (1976) werden Zuschauer mit Nähgarn zu einem sensiblen Netzwerk verbunden. In Selbst #1 (1975) umwickelt sie ihr Gesicht mit Fäden – ein Akt, den sie fotografisch dokumentiert. Daraus entwickelt sie die Technik der Fotovernähung weiter. Werke wie Mit mir Selbst (1975/2022) verbinden verschiedene Lebensphasen zu einem dialogischen Selbstporträt.

Mutterschaft und Identität

Ausstellungsansicht „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“ © Städel Museum

Mit ihrer Schwangerschaft 1977 integriert Soltau ein bis dahin in der Kunst marginalisiertes Thema: Mutterschaft. In Tages-Diagramme (1977) visualisiert sie Gedanken und Gefühle in Notizen und Linien. Werke wie Ich wartend (1978/79) oder Geteilte MUTTER-Säule (1980/81) zeigen Schwangerschaft als ambivalente Erfahrung. Serien wie Nähe (Selbst mit Sohn) (1980–1985) oder Symbiose (1981) thematisieren die Spannung zwischen Verschmelzung und Abgrenzung.

In der Langzeitserie Mutter-Glück (1977–1990) fragt Soltau, was vom eigenen Ich bleibt, wenn gesellschaftliche Vorstellungen Mutterschaft mit völliger Selbstaufgabe verknüpfen. Zerrissene und neu vernähte Porträts zeigen diesen inneren Konflikt, verstärkt durch überlagerte Schriftzüge wie „Mutter GLÜCK Kinder HASS“.

Generationen, Geschlecht, Konstruktionen

Soltaus Werk verbindet das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen. In der Serie generativ (1993–2005) porträtiert sie Frauen ihrer Familie, verwebt Generationen zu einem kollektiven Gedächtnis. In transgenerativ und hybrids (1990–2010) reflektiert sie soziale und biologische Grenzen von Geschlecht und Identität. Die Collagen zeigen Körperfragmente jenseits binärer Kategorien und unterstreichen: Geschlecht ist kein biologisches, sondern ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept.

Identität als Spurensuche

Die Frage nach Identität zieht sich durch ihr gesamtes Schaffen. Im Langzeitprojekt Vatersuche (seit 2003) verarbeitet sie ihre unvollständige Familiengeschichte. Sie ersetzt ihr Gesicht durch vernähte Dokumente und Karten – Identität als Spurensuche. Den Abschluss bildet die Serie personal identity (seit 2003): Statt Porträts sehen wir Ausweise, Zeugnisse und Bankkarten, vernäht mit dem Passfoto der Künstlerin. Die Serie, die mit ihrer Sterbeurkunde enden soll, thematisiert den Wandel von Identitätszuschreibungen im digitalen Zeitalter.

Gefördert durch

Die Ausstellung wird unterstützt von der Art Mentor Foundation Lucerne, der Hessischen Kulturstiftung, der Alexander Tutsek-Stiftung sowie vom Städelschen Museums-Verein e.V. Weitere Förderer sind Yoram Roth und die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung.

(Diether von Goddenthow/RheinMainKultur.de)

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