Christopher Clark hält Festrede zu 75 Jahre Leibniz-Institut für Europäische Geschichte

Die beiden Direktoren des IEG, Nicole Reinhardt und Johannes Paulmann, hier mit Festredner Christopher Clark, berichteten gemeinsam mit der ehemaligen Mitarbeiterin, Katharina Stornig, Universität Wien, vom Wandel, den das IEG über die Jahre hinweg durchlaufen hat. © Foto Diether von Goddenthow

Mainz, 7. November 2025: Mit einem Festakt beging das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) gestern sein 75. Jubiläum mit mehr als 100 Gästen aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Höhepunkte waren das Grußwort des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer und der Festvortrag des – aus „Terra X“ bekannten – Historikers Sir Christopher Clark. Auch der rheinland-pfälzische Wissenschafts- und Gesundheitsminister Clemens Hoch gehörte zu den Gratulanten, ebenso zahlreiche Kooperationspartner, Institutsleiter der Leibniz-Gemeinschaft sowie Vertreter der Leibniz-Museen sowie ehemaligen Mitarbeitern.

Als außeruniversitäre Einrichtung widmet sich das Institut seit 1950 mit seinem Forschungs- und Stipendienprogramm der Geschichte Europas und seinen globalen Bezügen seit 1500. Die beiden Direktoren des IEG, Nicole Reinhardt und Johannes Paulmann, berichteten gemeinsam mit der Historikerin Katharina Stornig von der Universität Wien vom Wandel, den das IEG über die Jahre hinweg durchlaufen hat.  Sir Christopher Clark, Regius Professor of History an der Universität Cambridge, sprach zum Thema „1848 im Rückspiegel – Resonanzen einer europäischen Revolution“.

Ministerpräsident Schweitzer beglückwünschte das IEG zu 75 Jahren erfolgreicher Forschung und betonte, dass das Institut seit Jahrzehnten einen herausragenden Beitrag zum Verständnis der gemeinsamen Geschichte Europas leiste und damit zum friedlichen Zusammenleben auf dem Kontinent beitrage. Das IEG trage mit seiner exzellenten Forschung und seinem internationalen Stipendienprogramm maßgeblich zur Verständigung und Kooperation über Grenzen hinweg bei. Seine Pionierarbeit in der digitalen Geschichtswissenschaft und die führende Rolle in der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur zeigten, wie innovativ und zukunftsorientiert die Geisteswissenschaften sein können. Schweitzer dankte allen Mitarbeitern des IEG für ihr Engagement und bezeichnete das Institut als Leuchtturm der Forschung in Rheinland-Pfalz, in Deutschland und in Europa.

Ministerpräsident Alexander Schweitzer würdigte in seinem Grußwort die besondere Bedeutung des IEG für Rheinland-Pfalz und die internationale Forschung. © Foto: akirafotografie

Mit ihrem Beitrag „Das IEG gestern, heute und morgen“ schilderten Nicole Reinhardt, Katharina Stornig und Johannes Paulmann eindrucksvoll die Entwicklung des Instituts. Reinhardt hob hervor, dass am IEG prägende Verbindungen und Netzwerke entstehen, die genuin europäisch sind, da hier junge Wissenschaftler aus aller Welt – Promovierte, Postdocs, Habilitierte sowie etablierte internationale Professoren – miteinander in wissenschaftlichen Austausch treten. Die Dynamik des Instituts zeige sich in der kontinuierlichen Erschließung neuer Forschungsfelder, etwa der „Europäischen Umweltgeschichte“ im Anthropozän. Katharina Stornig bezeichnete das IEG als idealen Ort, um die Geschichte Europas jenseits nationaler oder sozialer Engführungen zu erforschen, da dort eine Kultur herrsche, in der man eigene Gedanken und Projekte entwickeln und zur Diskussion stellen könne. Johannes Paulmann betonte, das Institut erforsche die historischen Grundlagen des heutigen Europas, erkenne Pfade, die in die Gegenwart führen, und entdecke vergessene Alternativen. Damit trage es wesentlich dazu bei, die Bedingungen gesellschaftlichen Handelns in Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft zu verstehen.

Christopher Clark  „1848 im Rückspiegel. Resonanzen einer europäischen Revolution“

Der Festvortrag „1848 im Rückspiegel. Resonanzen einer europäischen Revolution“ von Sir Christopher Clark bildete den Höhepunkt des Abends. Er stellte die  europäischen Revolutionen von 1848 heutigen Entwicklungen gegenüber und beleuchtete deren fortwirkende Bedeutung. Clark wies darauf hin, dass sich die Geschichte zwar mit der Zeit zu entfernen scheine, man jedoch in einem nichtlinearen Verhältnis zur Vergangenheit stehe. Es gebe Momente, in denen eine Geschichte, die als abgeschlossen galt, plötzlich wieder in unsere Nähe rücke. Diese These erläuterte er anhand der gegenwärtigen Resonanzen der Revolutionen und des 19. Jahrhunderts. Der anschließende Empfang bot Gelegenheit für Wiedersehen, neue Kontakte und den Austausch über das Jubiläum.
Christopher Clark unterstrich dabei einmal mehr, dass die Revolutionen von 1848/49 kein gescheitertes nationales Ereignis waren, sondern eine europaweit verflochtene Bewegung mit tiefgreifenden und nachhaltigen Wirkungen. Er zeigt, dass die damaligen Aufstände gemeinsame Anliegen verbanden – etwa politische Reformen, nationale Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit – und damit weit über nationale Grenzen hinauswirkten. Die spätere Reduktion auf nationale Erinnerungsnarrative habe diese europäische Dimension verfälscht.

In seinem Vortrag „1848 im Rückspiegel. Resonanzen einer europäischen Revolution“ betont der britisch-australische Historiker Christopher Clark, dass die Revolutionen von 1848/49 kein gescheitertes nationales Ereignis waren, sondern eine europaweit verflochtene Bewegung mit tiefgreifenden und nachhaltigen Wirkungen. Er zeigt, dass die damaligen Aufstände gemeinsame Anliegen verbanden – etwa politische Reformen, nationale Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit – und damit weit über nationale Grenzen hinauswirkten. © Foto Diether von Goddenthow

Clark widerspricht der gängigen Vorstellung, die Revolutionen seien „gescheitert“. Zwar seien viele ihrer unmittelbaren Ziele, wie die Schaffung stabiler demokratischer Ordnungen, nicht erreicht worden, doch hätten sie langfristig die politischen Kulturen, Institutionen und Öffentlichkeiten Europas verändert. So entstanden neue Formen liberaler Öffentlichkeit und verfassungsrechtlicher Ordnung, die den weiteren politischen Entwicklungen den Weg bereiteten.

Zugleich hebt Clark die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Ereignisse hervor. Die Revolutionen seien kein einheitliches Projekt gewesen, sondern von einer „verwirrenden Vielfalt“ politischer Strömungen geprägt – von liberalen und radikalen Kräften bis hin zu konservativen Gegenbewegungen. Diese Dynamik habe den „Zusammenbruch der Autorität“ in weiten Teilen Europas ausgelöst und die politische Ordnung grundlegend infrage gestellt.

Besonders aktuell wird Clarks Analyse durch die Parallelen, die er zwischen 1848 und der heutigen Zeit zieht. In beiden Epochen erkennt er Phasen großer Unsicherheit, in denen traditionelle Institutionen an Legitimität verlieren und neue Formen der Mobilisierung außerhalb etablierter politischer Strukturen entstehen. Themen wie soziale Ungleichheit, politische Teilhabe und das Spannungsverhältnis zwischen Reform und Reaktion seien damals wie heute zentral.

Aus der Auseinandersetzung mit 1848 zieht Clark die Lehre, dass Geschichte nicht linear verläuft und gesellschaftlicher Wandel stets offen, widersprüchlich und von unerwarteten Kräften geprägt ist. Der Blick auf die Revolutionen des 19. Jahrhunderts zeigt, wie eng Demokratie, Öffentlichkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander verwoben sind – und dass die Fragen, die damals gestellt wurden, auch in der Gegenwart nichts von ihrer Relevanz verloren haben.

Netzwerken © Foto Diether von Goddenthow

Das IEG – Institut mit Geschichte und Auftrag

Das heutige Leibniz-Institut für Europäische Geschichte wurde 1950 gegründet, hervorgegangen aus deutsch-französischen Historikergesprächen in Speyer nach dem Zweiten Weltkrieg. Ziel war es, eine neue, transnationale Geschichtsschreibung für Europa zu etablieren. Unterstützt von der französischen Militärregierung und amerikanischen Förderern entstand ein unabhängiges Forschungsinstitut, das neue, friedensorientierte Geschichtsbilder etablieren sollte. Damit wurde das IEG zu einem frühen Symbol der europäischen Idee, gegründet aus dem Wunsch nach Erneuerung, Verständigung und Zusammenarbeit. Die Anfänge, die frühen Jahre und die Entwicklung bis 1990 sind in einer virtuellen Ausstellung dokumentiert.

Aufgaben und Profil

Leibniz Institut für Europäische Geschichte © Foto: Angelika Stehle

Heute erforscht das IEG als gemeinnütziges, außeruniversitäres Forschungsinstitut die europäische Geschichte seit 1500 – ein weltweit einzigartiger Schwerpunkt. Seine Forschung konzentriert sich auf die politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Grundlagen Europas in der Neuzeit. Die Arbeit gliedert sich in drei Bereiche – Gesellschaft, Religion und Digitalität – und verbindet auf besondere Weise Geschichts- und Religionswissenschaften. Das Institut gehört zu den führenden Einrichtungen der historisch orientierten Digital Humanities.

Seit 2012 ist das IEG Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird gemeinsam vom Bund und den Ländern gefördert. Die Gemeinschaft vereint 96 Institute und zählt neben der Helmholtz-, Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft zu den vier großen außeruniversitären Forschungsorganisationen Deutschlands. Die Aufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft war ein zentraler Meilenstein in der Geschichte des Instituts. Direktorin Nicole Reinhardt und Direktor Johannes Paulmann, die das Haus mit rund 30 Wissenschaftlern leiten, betonen die Bedeutung dieses Schritts. Paulmann, seit 2011 im Amt, erklärte, dass das Institut mit der Aufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft sein Forschungsprofil deutlich erweitern konnte, insbesondere im Hinblick auf Europas Beziehungen zu anderen Weltregionen. Auch der wissenschaftsunterstützende Bereich wurde deutlich ausgebaut. Reinhardt, seit 2022 im Amt, ergänzte, dass das Institut durch die Zugehörigkeit zur Leibniz-Gemeinschaft unabhängiger von einzelnen Leitungspersönlichkeiten geworden sei. Sie dankte den früheren Direktoren Heinz Duchhardt und Irene Dingel für ihren entscheidenden Beitrag zu diesem Erfolg.

Wissenschaftliche Exzellenz und internationale Vernetzung

In den vergangenen 75 Jahren hat sich das IEG zu einem führenden Zentrum interdisziplinärer Europaforschung entwickelt. Es ist international vernetzt und arbeitet eng mit Forschungseinrichtungen weltweit zusammen. Das Institut betreibt zahlreiche Einzel- und Verbundprojekte zu den politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Grundlagen Europas in der Neuzeit. Eine eigene Publikationsreihe – die Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte (VIEG) – besteht seit 1952 und umfasst über 270 Bände. Rund 2000 Stipendiaten aus aller Welt haben bisher das internationale Stipendienprogramm des IEG durchlaufen. Ein weiteres bedeutendes Projekt ist Europäische Geschichte Online, eine Open-Access-Plattform mit Beiträgen internationaler Autoren zu zentralen Fragen der europäischen Geschichte.

Angesichts der aktuellen Herausforderungen in Europa gewinnt das IEG durch seine Arbeit wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die Grundlagen gesellschaftlichen und religiösen Zusammenlebens. Es untersucht langfristig prägende Prozesse und historische Transformationen vom Beginn der Neuzeit bis in die Gegenwart. Ein Forschungsschwerpunkt liegt im Umgang mit Differenz – dem Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander verschiedener politischer und religiöser Gruppen sowie unterschiedlicher Vorstellungen von Europa. In diesem Zusammenhang ist das IEG gemeinsam mit der JGU seit 2021 am DFG-Sonderforschungsbereich 1482 „Humandifferenzierung“ beteiligt.

In den vergangenen Jahren wurde zudem der Bereich der digitalen historischen Forschung stark ausgebaut. Seit 2019 beschäftigt sich das am Institut gegründete DH Lab mit aktuellen Entwicklungen der Digital Humanities. Das IEG ist Sprecher des Konsortiums NFDI4Memory innerhalb der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur, das seit 2022 eine langfristige digitale Forschungsdatenstruktur für historisch arbeitende Einrichtungen aufbaut. Für die Zukunft ist der Ausbau des Forschungsfelds „Europäische Umweltgeschichte“ geplant, das künftig als vierter Arbeitsbereich neben Gesellschaft, Religion und Digitalität etabliert wird. Die GWK hat im Oktober 2025 dem Antrag des Landes Rheinland-Pfalz auf Erweiterung des IEG in diesem Bereich zugestimmt.

Anlässlich des Jubiläums ist auf dem Blog des IEG außerdem ein dreiteiliges Interview mit den Direktoren Nicole Reinhardt und Johannes Paulmann erschienen.

(IEG / Diether v. Goddenthow – RheinMainKultur.de)