Am vergangenem Mittwoch, 30.September 2015, wurde der Wegbereiter der Leipziger Montags-Demonstrationen, der Leipziger Pfarrer Dr. h.C. Christoph Wonneberger von Oberbürgermeister Sven Gerich und Stadtverordnetenvorsteher Wolfgang Nickel mit dem Ludwig-Beck-Preis für Zivilcourage der Landeshauptstadt Wiesbaden 2015 ausgezeichnet. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Unter den Gästen waren neben Vertretern der Stadtverordnetenversammlung und der Kirchen auch die Kommandeurin der US-Garnison Wiesbaden Erbenheim, Colonel Mary L. Martin sowie eine Schulklasse der Dilthey-Schule mit ihrem Geschichtslehrer Dr. Schubert. Ferner begrüsste Oberbürgermeister Sven Gerich die beiden Großnichten Ludwig Becks: Marianne Tobeck und Gabriele Schreiner-Hammes.
Der Preis trägt den Namen des in Wiesbaden-Biebrich geborenen Widerstandskämpfers Generaloberst Ludwig Beck. In seiner Wohnung liefen die Fäden für das Attentat auf Hitler zusammen, obwohl er wusste, dass er permanent von der Gestapo observiert wurde. Beck war sogar als Staatsoberhaupt vorgesehen, hätte das Attentat auf Hitler geklappt. Mit dem Ludwig-Beck-Preis ehrt die Landeshauptstadt Wiesbaden Menschen in Gedenken an den Mut des Generaloberst Beck Institutionen oder Vereinigungen aus aller Welt, die sich mit besonderer Zivilcourage für das Allgemeinwohl, das friedliche Zusammenleben der Menschen, die soziale Gerechtigkeit und die Grundprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates eingesetzt haben.
„Ich freue mich sehr, dass sich das Auswahlgremium für Christoph Wonneberger ausgesprochen hat. Er hat Zivilcourage in ganz herausragender Art und Weise gezeigt. Die Verleihung des Preises an ihn, einen der maßgeblichen Wegbereiter der friedlichen Revolution in der DDR, ist auch angesichts des 25jährigen Jubiläums der Deutschen Einheit ein wunderbares Zeichen“, betonte Oberbürgermeister Sven Gerich. Aber Ludwig Beck und Christoph Wonneberger. so der Oberbürgermeister, seien auf den ersten Blick sicherlich nicht miteinander vergleichbar:„hier der humanistisch gebildete Sohn einer alten Offiziersfamilie, dessen militärische Laufbahn quasi schon in die Wiege gelegt war, dort der Sohn eines sächsischen Pfarrers, dem seine Berufung zum Pfarrer auch schon von Geburt an vorgegeben war“. Unterschiedlicher könnten Menschen auf den ersten Blick nicht sein“, so Sven Gerich,“und doch einen sie beide das Ziel, sich mit dem jeweils herrschenden System nicht nur anzulegen, sondern es nach Möglichkeit zu überwinden. Aber auch mit ganz unterschiedlichen Mitteln: Auf der einen Seite militärisch mit einem geplanten Attentat als Basis für einen Staatsstreich. Auf der anderen Seite mit Friedensgebeten; ermunternd, motivierend und immer wieder Mut machend. Jedoch in beiden Fällen immer mit der Gewissheit, beobachtet und in Gefahr für Leib und Leben zu sein.
Ludwig Beck bezahlte für seinen Einsatz mit dem Leben. Christoph Wonneberger erfuhr seine eigene Wiedergeburt nach einem Gehirninfarkt am 30. Oktober 1989, dem Tag, an dem 500 000 Menschen in Leipzig demonstrierten und skandierten: „Wir sind das Volk“.
Auch Stadtverordnetenvorsteher Wolfgang Nickel, Mitglied des Preis-Auswahlgremiums, unterstrich Dr. Christoph Wonnebergers Schlüsselrolle als einer der Wegbereiter der friedlichen Revolution in Leipzig und sein unbeirrbares wie riskantes Engagement der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen. „Pfarrer Christoph Wonneberger war einer der Haupt-Akteure der friedlichen Revolution in der DDR. Bereits zu Beginn der 80er Jahre hat er sich konsequent für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt. Ich bin sehr beeindruckt von dieser Leistung.Trotz der ständigen Bedrohung durch die Staatssicherheit und der Schwierigkeiten auch innerhalb der Kirche, hat er in der Leipziger Nikolaikirche den Menschen Mut gemacht und ihnen die Angst genommen“, sagte Wolfgang Nickel.
Der anschließend im Ratssaal abgespielte Videofilm 25 Jahre Friedliche Revolution: Aus der Kirche auf die Straße nahm die Besucher auf eine beeindruckende kurze Zeitreise über Christophs Wonnebergers Wirken mit.
So eingestimmt, lauschten die Festgäste besonders aufmerksam der Laudatio Cristian Dietrichs, Thüringer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Christian Dietrich ist langjähriger Freund und Wegbegleiter von Christoph Wonneberger. Er war damals als 16-jähriger in den Leipziger friedensbewegten Zeiten der Montags-Demos aktiv mit dabei. Kein anderer hätte es wohl besser verstanden, als Zeitzeuge so authentisch über Pfarrer Christoph Wonnebergers riskantes und mutiges Wirken zu berichten. Dietrichs Gänsehaut-Laudatio, zugleich ein beeindruckendes zeitgeschichtliches Dokument jener Tage, dürfen wir mit Dietrichs Erlaubnis folgend abdrucken:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
Wunderbar ist es: der Zivilcouragepreisträger 2015 ist Christoph Wonneberger. Ein Vierteljahrhundert nach dem Deutschland geeint ist, schauen wir dankbar zurück auf das, was seit dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft in unserem Land möglich wurde.
Mit Christoph Wonneberger wird nicht nur ein Mensch geehrt, der einen besonderen Anteil am Ende der SED-Diktatur hatte, sondern zugleich einer der auch heute an einer Kultur des Bürgermutes arbeitet. Welchen langen Weg Christoph Wonneberger dabei gegangen ist und geht, wird öffentlich noch nicht so lange wahrgenommen. Die Biographie des Archivs Bürgerbewegung und die Biographie, die der Sächsische Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen im vergangenen Jahr herausgegeben haben, versuchen diesem Mangel abzuhelfen. Dem diente auch der Nationalpreis im vergangenen Jahr. Bei der Verleihung im Französischen Dom in Berlin hisste der Preisträger jedoch nicht die Deutsche Fahne, sondern seine Regenbogenfahne mit dem Symbol der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“. In diesem Sinne denke ich, ist Dir, lieber Christoph, der Zivilcouragepreis besonders nahe.
Mit dem Ludwig-Beck-Preis werden die „beiden Leben“ von Christoph Wonneberger gewürdigt: sein Engagement für Freiheit und Leben als Pfarrer in der DDR bis zum Schlaganfall Ende Oktober 1989 und sein Engagement für die Menschlichkeit und den Frieden, seit Christoph Wonneberger seine Sprache wiedergefunden hat. Dazu gehört der Protest gegen die Präsenz amerikanischen Militärs auf dem Fliegerhorst in Büchel und gegen die Verletzung des Atomwaffensperrvertrags in den letzten Jahren.
Für Christoph Wonneberger ist Zivilcourage das Pendant zum Gebet und Ausdruck des Gottvertrauens. Diese Form des Bürgermutes kumulierte in Ost und Mitteleuropa vor einem Vierteljahrhundert zu einer Revolution. Eine Revolution, die anders verlief als die Französische. Eine Revolution, die auch auf anderen Werten ruhte.
Zu ihren Schlüsseldaten gehören ganz unterschiedliche Versuche, „in der Wahrheit zu leben“ (Václav Havel), aber auch die Öffnung von russischen Kirchen kurz vor dem Millennium der Taufe Russlands, die Bildung von fliegenden Universitäten und Gewerkschaften in Polen und die Wahl eines Polen zum Papst, die Bezeichnung von Gräbern der Opfer des kommunistischen Terrors, Gottesdienste auf den Straßen vor den umgenutzen Kirchen in der Ukraine und Weißrussland, eine 600 km lange Menschenkette quer durch das Baltikum 50 Jahre nach dem Stalin-Hitler-Pakt und hunderttausende Menschen, die ihre Heimat mit fast nichts verließen.
Lange bevor sich in den ehemals kommunistischen Ländern der Wandel hin zu bürgerlichen Freiheiten vollziehen konnte, begann sich das Wissen auszubreiten, dass es Freiheit und Demokratie nicht ohne Besonnenheit und beherzte Bürger geben kann.
Nicht mehr in der Lüge leben zu müssen und Verantwortung übernehmen zu dürfen, souverän zu werden als Bürger, als Unternehmer, als Kommune oder Land, das waren die Leitwerte, die die Menschen aus der kommunistischen Diktatur nach Europa führten. Ein wichtiger Pfad dabei war die Zivilcourage, die letztlich auf Konflikt- und Gewaltminimierung zielte.
Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen. Glücklich ein Land, das keine Helden braucht!
In Diktaturen gibt es keine Trennschärfe zwischen Zivilcourage und Heldentum. Die SED verstand – wohl nicht zu unrecht – Selbstbestimmung und Solidarität sehr oft als Angriff auf ihre Macht.
Zur Anpassung in Schule, in Beruf, im Verein, in der Hausgemeinschaft, in der Öffentlichkeit und anderswo… – zur Anpassung gab es Alternativen, doch oft mit unabsehbaren Risiken. Leben in der Diktatur hieß, ständig abzuwägen ob Anpassung oder Widerstand gegen die staatlichen Instanzen sinnvoll ist. Dem Druck konnte man nur mit einer Risikobereitschaft und mit einer gewissen politischen Moralität gewachsen sein.
Christoph Wonneberger hat wie sein Vater Theologie studiert und wurde evangelischer Pfarrer. In den evangelischen Kirchen wurden nach dem Mauerbau Trainingsprogramme zur Stärkung der Bürger gegenüber dem Staat und seiner Ideologie entwickelt. Eines dieser pädagogischen Konzepte nannte sich „Erziehung zum Frieden“ – es hätte auch Freiheitstraining heißen können. Einer der Innovativsten auf diesem Feld in den letzten 15 Jahren der DDR war Christoph Wonneberger.
Viele Elemente des gewaltlosen Widerstands gegen eine der wirkmächtigsten europäischen Diktaturen sind mit ihm verbunden:
- Friedensgebete
- Fastenwochen
- Friedenssternfahrten
- ein Werkstattwochenende der Opposition unter dem Titel „Statt Kirchentag“
- selbstverantwortete Zeitschriften
- Flugblätter
- Demonstrationen.
Etwas ganz Spezifisches für Christoph Wonneberger war die Initiative für den Sozialen Friedensdienst mit der sprechenden Abkürung „SoFD“.
Was verbarg sich dahinter?
In der DDR gab es keine Alternative zur Wehrpflicht. Lediglich Baubrigaden innerhalb der DDR-Armee wurden zugestanden. Verweigerer mussten mit hohen Haftstrafen rechnen. Im Gegenzug dazu entwickelte eine Dresdner Gruppe um Christoph Wonneberger 1981 ein scheinbar ganz niederschwelliges Konzept der Selbstverteidigung und des gesellschaftlichen Wandels. Anstelle des Dienstes in der Armee sollten – ähnlich wie es in der Bundesrepublik möglich war –Wehrpflichtige in Alters- und Pflegeheime gehen können. SoFD stellte nicht nur die Militarisierung der Gesellschaft in Frage, sondern ging zugleich an gegen die katastrophalen und entwürdigenden Zustände in den staatlichen Pflege- und Altersheimen. Schon die Idee war ein Übungsfeld für Zivilcourage. In Verbindung mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ waren viele Jugendliche daran beteiligt.
Wieder waren die Risiken unabsehbar. Die Vorreiter wurden von der Stasi verfolgt. Die Vorgänge der Beteiligten erhielte Codeworte wie „Feind“, „Pazifist“, „Zersetzer“ oder „Provokateur“. Die SED reagierte mit Bildungsverboten. Einige Bürgerrechtler wurden inhaftiert, wie z.B. Roland Brauckmann aus Hoyerswerda.
Was ermutigte die so Verfolgten, nicht aufzugeben?
Im Gemeindebrief vom Ende des Jahres 1987 fragte Pfarrer Wonneberger nach dem Horizont des Jahres 1987 und stellte fest, dass in der Froschperspektive alles grau und grau erscheint.
Kein Silberstreif am Horizont… Horizontverengung. Selbst der Stern von Bethlehem außer Sichtweite.
Da half nur ein Blickwechsel, doch auch die Vogelperspektive ist nicht eindeutig. Der Pfarrer stellte Alternativen fest: Falke oder Taube? und plädierte für die Perspektive aus dem Taubennest auf dem Kreuz Jesu Christi. Wie solch ein Perspektivwechsel, solche eine Befreiung möglich ist, habe ich im Leipziger Friedensgebet vor 26 Jahren, am 25. September 1989, erlebt.
Seit Ende 1988 versuchten wir den Platz vor der Nikolaikirche als öffentlichen Raum zu gewinnen, als Forum und letztlich als Ort, an dem die Sinn- und Machtfrage gestellt werden kann. Nach dem Friedensgebet am 4. September 1989 wurden dazu Transparente getragen.
Darauf war u.a. zu lesen: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Die SED reagierte mit Gewalt. Verhaftungen, hohe Geldstrafen, Polizeiketten und Hundestaffeln. Faktisch wurden die Friedensgebetbesucher und Demonstranten eingekesselt.
In dieser Bedrohungssituation hielt Christoph Wonneberger seine Predigt.
Er begann mit den Worten:
’Mit Gewalt’, sagte der Friseurgehilfe – das Rassiermesser an meiner Kehle – ‚ist der Mensch nicht zu ändern!’
Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil.
Nach einer kurzen Pause lachten einige in der Kirche und es gab Beifall. Mit wenigen Worte war das Problem eines jeden, der unter Gewalt lebt, umschrieben. Fast jeder, der in der Kirche stand – es waren 2000 Menschen
gekommen, hatte Angst vor Gewalt.
Sie waren ja gekommen, weil sie nicht abseits stehen wollten, weil sie „Gesicht zeigen“ und ihren Protest artikulieren wollten. Doch wie wird die Staatsmacht in weniger als einer Stunde darauf reagieren?
Die Geschichte mit dem Rassiermesser an der Kehle zeigte: Unter Gewalt gibt es kein Entrinnen, keine Freiheit. Gewaltlogik widerspricht jeder Vernunft. Unter Zwang, Androhung und Anwendung von Gewalt wird das Subjekt gespalten und Lebensoptionen zerstört. Indem Christoph Wonneberger dieses Diktaturprinzip ansprach, leitete er schon die Befreiung ein.
Ich erinnere mich, wie seine Rede mich immer wieder zum Lachen lockte und so die Anspannung wich.
Im Zentrum der Rede stand die Analyse der Gewalt und ihrer Logik:
Gewalt zerstört Menschenleben.
Aus diesem Grund wird Gewaltanwendung strafrechtlich geahndet.
Doch was ist, wenn der Staat gewalttätig ist und diese nicht kontrolliert und begrenzt wird durch Parlamente, Gerichte und die Öffentlichkeit?
Ein solcher Staat verliert seine Legitimation.
Wer Gewalt übt,
mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst Opfer der Gewalt.
[…]
Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege
mehr.
Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen.
Und die, die von Gewalt bedroht sind, was können sie tun?
Wonneberger sagte: Angst haben wir, so denke ich, alle […] Aber: Fürchtet Euch nicht, mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel und auf Erden, so sagte einst Jesus. Das war keine Drohung, das war keine Nötigung. Dahinter steht kein Machtapparat. Mir ist gegeben alle Gewalt, das heißt innere Gewissheit und innere Kraft und äußere Glaubwürdigkeit. Demgegenüber sind Stasi- Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln nur Papiertiger und so endete die Predigt prophetisch: Fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten.
In Besonnenheit und im Vertrauen auf Gott kann der destruktive Regelkreis der Gewalt durchbrochen werden, Freiheit hat Platz und Gewaltlosigkeit Zukunft. Nach einem orthodoxen Lobpreis Gottes und Empfehlungen zum gewaltlosen Handeln folgte das Lied ‚We shall overcome’. Es war von Peet Seeger in die DDR gebracht worden und war auch unter der sozialistischen Jugend bekannt. Das Lied nahm die Emotionen auf und gab eine gemeinsame Sprache der Zuversicht (‚We shall overcome‘), Gemeinschaft (‚We walk hand in hand‘) und Sehnsucht (‚We will live in peace‘).
Beim Fürbittengebet ergriffen manche die Hände ihrer Nachbarn und erhoben die gefassten Hände. Nach dem Segen wurde noch mal das Lied gesungen.“
Es war wie Heilig Abend am Ende der Christvesper, wenn die Gemeinde im Stehen die Weihnachtshymne anstimmt und weiß: Jetzt ist Weihnachten.
Draußen auf der Straße formierte sich dann der Demonstrationszug, Hunderte, die nicht im Friedensgebet waren, schlossen sich ihm an. Zuletzt waren es wohl 4000 Menschen, die an diesem Abend demonstrierten. Hier – auf der Straße – wurde couragiert die Machtfrage gestellt – ganz im Sinne des Predigers: Wir können auf Gewalt verzichten.
Später wird Christoph Wonneberger sagen:
Leibhaftig ist der, der mit Gott rechnet.
Mit der Zunahme der Gewalt gegen Demonstranten in den Tagen um den 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober wurde der Montag, der 9. Oktober, zum Tag der Entscheidung.
Vierzehn Tage nach der ersten großen Demonstration kamen wohl 25mal soviel Menschen in die Leipziger Innenstadt. Eine Gruppe um Christoph Wonneberger hatte in Vorbereitung dieses Tages tagelang heimlich über 25.000 Flugblätter hergestellt.
Wir haben eines davon gerade in dem Film gesehen
(https://www.youtube.com/watch?v=LY-N7seuOBM).
Hier hieß es:
An die Einsatzkräfte appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt!
Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt!
W i r s i n d e i n V o l k !
Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden!
Der Satz Wir sind ein Volk! sprang in die Augen. Er wurde auf der Straße auch skandiert.
„Wir sind ein Volk!“ meinte nicht die Deutsche Einheit, sondern überbrückte die Distanz zwischen denen, die ihre Herrschaft auf Gewalt und Willkür errichteten und denen, die dagegen aufstanden.
Die Autoren des Flugblattes gingen davon aus, dass es trotz dieser langen Gewaltherrschaft etwas gibt, was die Menschen in der DDR letztlich verbindet: die Angst vor blutenden Wunden.
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
heute, wo sich der Magistrat von Wiesbaden und viele Demokraten dieses Landes Christoph Wonneberger mit dem Preis für Zivilcourage ehren oder ihm dazu gratulieren, sei mir gestattet die brennende Frage der Friedlichen Revolution zu wiederholen:
Sind wir ein Volk?
Was hält uns als Deutsche, als Bundesrepublik zusammen? Das ist keine Frage nach dem Verhältnis von „Ossi“ und „Wessi“. Nein, die Unterschiede unter uns Ostdeutschen sind größer als diese pauschalen Zuordnungen innerhalb Deutschlands. Den „Ossi“ gibt es nicht. Dies zumindest stellte der Bundespräsident vor wenigen Tagen fest (Interview mit der Wochenzeitschrift SUPERillu, 24.09.2015).
Ein Ausgleich zwischen denen, die in ihrer Bildung und Karriere behindert wurden, viele Jahre ihres Lebens in mehrfacher Hinsicht eingesperrt waren und mit perfiden Methoden zersetzt wurden und denen, die das auf Gewalt gestützte System mitgetragen haben, ist immer noch offen und schon lange ein gesamtdeutsches Thema.
Doch – was verbindet unsere Gesellschaft?
Nicht nur angesichts der vielen potentiellen Neubürger stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz des Gründungsimpuls der Bundesrepublik. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen…“, – so wird die Basis unserer Gemeinschaft in der Präambel unserer Verfassung beschrieben.
In Verantwortung wächst Freiheit.
Doch: Können wir uns des deutschen Verantwortungspatriotismus’ so sicher sein? Wie kommen dabei die Erfahrungen der beiden menschenverachtenden deutschen Diktaturen zur Geltung?
Eine europäische Studie stellt fest, dass sich nirgendwo die Bevölkerung so wenig mit ihrem Land identifiziert wie in Deutschland (Radar des gesellschaftlichen Zusammenhalts).
Ein gefährliches Missverständnis von Zivilcourage ist, den Pfad der Gewaltlosigkeit zu verlassen und sie als Konkurrenz zum staatlichen Gewaltmonopol auszubauen.
Christoph Wonneberger hat – als ein ganzer Staatsapparat gegen sein Volk stand – gesagt: Er gibt keine Alternative zum staatlichen Gewaltmonopol.
Christoph Wonneberger – Preisträger des Ludwig-Beck-Preises für Zivilcourage. Der Preis ist eine Ermutigung zur Freiheit, die aus Verantwortung wächst
Leibhaftig ist der, der mit Gott rechnet.
Zivilcourage als Stärkung des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols durchbricht die Teufelskreise der Gewalt und stärkt unsere Gesellschaft als Schutzraum der menschlichen Würde.
Ich danke Ihnen für ihre Geduld.“
(Wir danken Christian Dietrich, dass wir seine Rede vom 30. September 2015 im Rathaus Wiesbaden anlässlich der Verleihung des Ludwig-Beck-Preises für Zivilcourage der Landeshauptstadt Wiesbaden 2015, original abdrucken durften)
Nach einem musikalischen Zwischenspiel „Tango von Michael Mc Lean“ des Streichquartett der Wiesbadener Musik- und Kunstschule folgte die Preisverleihung durch Oberbürgermeister Sven Gerich und Stadtrat Nickel. Lang anhaltender Applaus. Der so geehrte Pfarrer Dr. Christian Wonneberger war sichtlich gerührt über so viel Lob. Das ist gar nicht sein Ding. So spielte er in seinem Dank sogleich sein „viel zu hochgespieltes“ Leipziger Wirkung im Vergleich zum Wagemut des Offiziers und Namenspatron Ludwig Beck herunter: „Während Beck seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlte“, so Wonneberger, „war meine geplante Internierung in einem Schweinestall für mich dagegen ein Klacks.“ Er habe doch nur getan, was getan werden musste, und in seiner Position als Pfarrer habe er da schon mehr Möglichkeiten gehabt als die meisten anderen. Er sei immer schon ein Revoluzzer gewesen, auch heute noch. Seit Pfarrer Wonneberger nach seinem Schlaganfall 2008 wieder die Sprache gefunden hatte, ist er erneut unermüdlich in Sachen Frieden unterwegs, und das im wahrsten Wortsinne: Mit dem Fahrrad fährt und organisiert Wonneberger Friedenstouren. Angelika Eder, Lehrerin aus Benzheim Bergstrasse, begleitet ihn häufig dabei. Eine der weitesten Friedensfahrten führte von Paris nach Moskau und zurück, insgesamt 4000 Kilometer Friedens-Fahrradtour.
Immer im Gepäck dabei: Mehrere Exemplare seiner eigens für diese Friedensmissionen gefertigte Regenbogen-Friedensfahne mit der aufgedruckten weltweiten Botschaft „Schwerter zu Pflugscharen“, die Wonneberger an würdige Gesprächspartner als Andenken und Mahnung zugleich verschenk, so auch an Wiesbadenens Oberbürgermeister Sven Gerich. In Kürze reisen Christoph Wonneberger mit Angelika Eder in einer Gruppe Kriegsgegner wiederholt ins ferne Asien nach Korea. Dort ist eine Friedens-Radtour entlang der Grenze zwischen Nord- und Südkorea geplant. Weitere Projekte stehen auf Wonnebergers Plan: Mahnende Friedensfahrten zu europäischen Nato- und Atomwaffen-Stützpunkten mit der Forderung nach totaler Abrüstung auf allen Seiten, „bei den Amerikanern und den Russen“. Pfarrer Dr. Christoph Wonneberger ist durch und durch Pazifist und auch nach 25 Jahren kein „Salon-“ oder „Talkshow-Friedensbewegter“ geworden, sondern einer, der es vorzieht couragiert zu handeln und Verantwortung vorzuleben. Der Frieden muss jeden Tag aufs Neue gepflegt, verteidigt und eingefordert werden, davon ist Pfarrer Dr. Christoph Wonneberger überzeugt. Einen besseren und authentischeren Preisträger hätte die Stadt Wiesbaden wohl kaum finden können!