
Gestern Abend wurde feierlich die 37. Ausgabe des exground filmfestes im Wiesbadener Caligari Filmbühne im Beisein von Kulturdezernent Dr. Hendrik Schmehl und Karin Wolff, Geschäftsführerin des Kulturfonds Frankfurt RheinMain eröffnet . Mit vielen lokalen und internationalen Gästen startete das Festival mit dem französischen Film THE STORY OF SOULEYMANE (FR 2024) von Boris Lojkine.
Das eindringlich gespielte Drama um den als Fahrradkurier in Paris ausgebeuteten Geflüchteten Souleymane war zugleich ein würdiger Start in den diesjährigen Themenschwerpunkt Flucht und Vertreibung – umso mehr, als Hauptdarsteller Abou Sangare dank seiner packenden Performance erst vor kurzem für den Europäischen Filmpreis nominiert worden war und der Film, wie Andrea Wink vom exground-Orga-Team bei ihrer Begrüßung verkünden konnte, jetzt einen Verleiher gefunden hat und in die Kinos kommen wird.
Diese zeigt einmal mehr dass das Exground-Filmteam wieder einmal ein sehr gutes Gespür für hervorragende Filme wie THE STORY OF SOULEYMANE hatte.

THE STORY OF SOULEYMANE (2024) greift ohne moralischen Zeigefinger und politisch unkorrekt sehr drastisch aus „Flüchtlingsperspektive“ die Realität eines Migraten-Schicksals auf, nämlich das von dem bpm Abou Sangare hervorragend gespielten Fahrradkurier Souleymane. Dieser hat seine Heimat verlassen und versucht, in Paris Fuß zu fassen. Um von der Behörde anerkannt zu werden, muss er, eigentlich ein Wirtschaftsflüchtling, eine plausibel klingende Story erzählen können. Die versucht ihn ein ehemaliger, bereits anerkannter Flüchtling gegen Geld beizubringen. Doch in der Hektik als Fahrradkurier in Paris fehlt ihm die nötige Zeit alles genau zu lernen, zudem gibt es Stress mit einem Unfall, mit verpassten Bussen, um in sein außerhalb von Paris befindliches Flüchtlings-Quartier zu gelangen, und er wird auf brutale Weise von seinem Boss, ebenfalls ein aus der Flüchtlings-Szene aufgestiegener Gangster ausgebeutet.
Das Drama beleuchtet nicht nur ungeschminkt Souleymanes persönlichen Kämpfe und Hoffnungen, sondern wirft auch einen kritischen Blick auf die schwierigen Lebensbedingungen von Geflüchteten in der Alltagsmühle unter „Ihresgleichen“ und in der behördlichen Mühle zwischen „Abschiebung“ und „Anerkennung“ und „einer davon abhängigen Arbeitserlaubnis“. Zum Filmschluss in der Behörde, sagt ihm die eigentlich recht emphatisch wirkende Beamtin, dass sie seine Geschichte schon so oft wortwörtlich gehört habe, und er als er psychisch zusammenbricht, darf er seine wirkliche Geschichte erzählen. Es bleibt offen, ob er als Flüchtling anerkannt wird, und in Paris bleiben darf, oder wieder zurückkehren muss.
Die in Frankreich spielende Geschichte zeigt vor allem, wie sich findige Geschäftemacher, oftmals selbst ehemalige Flüchtlinge, die prekäre Lage von Neuankömmlingen ausnutzen, ihn Schwarzarbeit vermitteln, aber voll in der Hand haben, ihnen nach Laune den vereinbarten Lohn kürzen oder gänzlich vorenthalten und sie, wo immer möglich, abzocken, sei es Hilfe zum Einstudieren sinnloser Flüchtlingsstorys für Amt, oder mit falschen Papieren oder mit unbezahlter Arbeit.
Der Film lädt dazu ein, das Thema „Migration“ aus einer zutiefst menschlichen Perspektive zu betrachten und sich mit der Komplexität zu beschäftigen, wenn Staaten es nicht mehr schaffen, sich nicht mal um bereits eingereiste Flüchtlings-Schicksale ausreichend zu kümmern.
Was die exground-Filmwoche bringt – Empfehlungen von exground-Team
Highlights aus dem Programm
Am Samstag, 16. November, zeigt exground filmfest Mahdi Fleifels sehr authentischen Thriller TO A LAND UNKNOWN (GB/FR/GR/NL/QA/SA 2024), der in Athen spielt. Die Cousins Chatila und Reda versuchen mit Kleinkriminalität und Sexarbeit an Geld und gefälschte Pässe für die Weiterreise nach Europa zu kommen. Mahdi Fleifel inszenierte ein mitreißendes Buddy-Movie über die Traurigkeit des Exils.
Der mehrfach in Venedig ausgezeichnete SUGAR ISLAND (DO/ES 2024) von Johanné Gómez Terrero lässt am Sonntag, 17. November, das Publikum in eine spirituelle Welt eintauchen und ist zugleich ein antirassistisches und dekoloniales Manifest. Eine ungewollte Schwangerschaft zwingt Makenya, eine dominikanisch-haitianische Teenagerin, erwachsen zu werden. Sie lebt mit ihrem Großvater, einem Aktivisten für das Rentenrecht der Arbeiter, und der Mutter, einer Anhängerin der afrodominikanischen Spiritualität, in einer Gemeinde inmitten von Zuckerrohrfeld. Der Schnittmeister Raúl Barreras wird zur Filmvorführung präsent sein.
Passend zum Wochentag wird Iair Saids bittersüße Komödie MOST PEOPLE DIE ON SUNDAYS (AR/IT/ES 2024) im Beisein des Regisseurs gezeigt. David, ein Mittdreißiger, ist übergewichtig, homosexuell und hat Flugangst. Zur Beerdigung seines Onkels kehrt er aus Europa nach Buenos Aires zurück. Als ihm seine Mutter dann auch noch eröffnet, dass sie das Beatmungsgerät seines Vaters abschalten wird, schwankt er zwischen dem innigen Familienleben mit seiner Mutter und der Gier, seine existenziellen Ängste zu meistern.
Am Montag, 18. November, ist Jannis Alexander Kiefer vor Ort, der bereits mit einigen Kurzfilmen Preisträger beim exground filmfest war und mit seinem fabelhaft besetzten und skurrilen Langfilmdebüt zurück beim Festival ist. ANOTHER GERMAN TANK STORY (DE 2024) versetzt das Publikum nach Wiesenwalde, wo normalerweise nichts los ist, bis eine Hollywood-Crew kommt, um eine Serie über den Zweiten Weltkrieg zu drehen. Die Dörfler jagen ihren Träumen hinterher, bis ein plötzlicher Stromausfall alle Pläne zu durchkreuzen droht und alte Geschichten hochkommen.
Ebenfalls am Montag wird das iranische Drama THE OLD BACHELOR (IR 2024) von Oktay Baraheni im Beisein des Filmproduzenten gezeigt. Im wirtschaftlich angeschlagenen Iran leben zwei Brüder mittleren Alters bei ihrem tyrannischen Vater. Der zu Wutausbrüchen neigende und von Chauvinismus getriebene Mann wurde von seiner zweiten Frau verlassen, die er missbrauchte. Jetzt schikaniert er seinen ältesten Sohn, während der jüngere Bruder darüber nachdenkt, wie er seinen Vater umbringen könnte. Eine griechische Tragödie im modernen Gewand.
Last but not least findet am Montagabend die beliebte exground-GONG-SHOW in der Caligari FilmBühne statt, zu dem alle herzlich kostenfrei eingeladen sind, sei es mit einem eigenen Film oder als Fan kultiger Trash-Movies.
Am Dienstag, 19. November, präsentiert die Regisseurin Justine Bauer persönlich MILCH INS FEUER (DE 2024) und ist offen für Publikumsfragen. Der Film handelt von drei Generationen von Bäuerinnen unter einem Dach. Anna ist schwanger und denkt übers Kastrieren nach. Katinka kann vielleicht keine Bäuerin werden und trägt ihren Bikini im Melkstand. Ein Sommer auf sterbenden Bauernhöfen. Justine Bauers Spielfilmdebüt ist nicht nur ein in Mundart gedrehtes Drama über Landwirtschaft, sondern es geht auch um die Nähe zur Natur und zu den Tieren – und um eine Jungbäuerin, die ihren Weg zwischen Selbstfindung und Familientradition sucht. Auch Janis Schmidt, Regisseur des Vorfilms ESSEN BESTELLEN (DE 2024), wird im Murnau-Filmtheater zu Gast sein.
Am Mittwoch, 20. November, ist auch der Regisseur Benjamin Pfohl nach der Vorführung von JUPITER (DE 2023) für ein Gespräch mit dem Publikum da. Der Komet kommt! Jedenfalls glauben das die Protagonisten seines Films. In aller Eile wird die 14-jährige Lea aus ihrem gewohnten Leben gerissen, als ihre Eltern sie und ihren Bruder mit in die Berge nehmen. Ihre Familie ist einer kosmischen Sekte verfallen, die Erlösung in einer höheren Existenz auf dem Jupiter verspricht. Nach und nach enthüllen Leas Erinnerungen den Kampf der Familie um Halt im Leben, während sie sich für den Tod oder ein selbstbestimmtes Leben auf der Erde entscheiden muss. Der starbesetzte Debütfilm beruht auf dem gleichnamigen Kurzfilm, der bei exground filmfest einen Preis gewann.
Am Mittwoch sollte man auch Marcelo Gaetanos sehr spannendes Drama BABY (BR/FR/NL 2024) nicht verpassen. Der Regisseur wird auch ein Publikumsgespräch anbieten. Nach der Entlassung aus der Jugendstrafanstalt findet sich Wellington allein auf den Straßen von São Paulo wieder. Seine Eltern haben ihm keinen Kontakt hinterlassen, er hat weder Bleibe noch Geld, um sich ein neues Leben aufzubauen. In einem Pornokino lernt er Ronaldo kennen, einen älteren Escort. Der erfahrene Mann nimmt Wellington unter seine Fittiche und führt ihn ins Milieu ein.
Am Donnerstag, 21. November, nimmt Oksana Karpovych das Publikum mit INTERCEPTED (CA/FR/UA 2024) mit in den Ukraine-Krieg. Anschließend wird ein Filmgespräch mit der Produzentin Olha Beskhmelnytsina stattfinden. Ein schaukelndes Kind voll Leichtigkeit, dann ausgebrannte Panzer am Straßenrand. Plötzlich Stimmen auf Russisch. „Hi Mama, kannst du dir einen Moment nehmen, um zu reden?“ Der Beginn einer Reihe von Telefonaten zwischen russischen Soldaten und ihren Familien. Kontrastiert mit den oft tableauhaften Aufnahmen zerstörter ukrainischer Orte, schaffen sie eine gespenstische Reibungsfläche.
Tickets für die 37. Ausgabe von exground filmfest gibt es online unter www.exground.com abrufbar. Und ebenfalls zu finden in der exground-filmfest-App.