
Im Zuge seiner postindustriellen Transformation gibt Turin nun Gas wie früher FIAT und hebt einen Schatz, von dem alle etwas haben sollen: das einzigartige Design- und Industrieerbe.
Hätte sich Weltraumaspirant Clint Eastwood nicht gerne in diese Theatersessel gleiten lassen? Im Science-Fiction-Film „Space Cowboys“ lässt er sich im Jahr 1958 von der NASA für eine Weltraummission auswählen. Turins Theater entstand nur wenig später: ein nicht-fiktives Opus der 1960er-Jahre, fürwahr spacig und bis heute eine Einladung, sich anderen Welten zu öffnen.
Damals spukt das All herum in vielen Köpfen. Hollywood, Architekten und Designer denken intergalaktisch. Ein Resultat ist der Theaterbau von Carlo Mollino. Jetzt, im Zuge des Retro-Futurismus, ein besonderes Vergnügen mit nostalgischer Note. Die kräftigen Rot- und Lilatöne des Teatro Regio Torino kennt man etwa von den Lavalampen der frühen Raumfahrt-Ära: Sie sitzen mit im Publikum.
Stefano Lo Russo, Präsident der Stiftung Teatro Regio und Bürgermeister von Turin, zur Bauzeit des Kulturtempels weltberühmt als Auto-Eden, versteht den extravaganten Bau als „Motor des kulturellen Lebens“. Baumeister Mollino begriff Turins Theater vorrangig als begehbare Skulptur mit femininer Note. Formal fußt es auf dem Weltraumhype, den gesellschaftlichen Utopien und dem außerordentlichen Stilgefühl der Sixties. Etuikleid, Hochfrisur, James Bonds Wodka-Martini waren bei Baubeginn der letzte Schrei. In diese Epoche passte auch Valentine, die errötete Olivetti-Schreibmaschine, made in Italy: wo sonst. Wie der Mollino-Bau oder FIAT ebenfalls ein großer Wurf aus Turin.
Die damals ikonischste Schreibmaschine von allen und wie andere ihrer Art mit einem Frauennamen veredelt, ist heute Hingucker in Designmuseen sowie im MoMA. Seinerzeit war sie ein Meilenstein des Industriedesigns und genialer Entwurf von Stardesigner Ettore Sottsass. Benutzt haben sie auch sein nicht minder erfindungsreicher Wiesbadener Kollege Dieter Rams oder David Bowie, der auf der knallroten Valentine Songtexte tippte.
Olivetti mit Sitz in Ivrea in der Metropolregion Turin, bei uns zunächst mit mehreren Standorten im Kreis Offenbach angesiedelt und später dann in den auch architektonisch herausragenden und repräsentativen Olivetti-Türmen in Frankfurt-Niederrad, setzte früh auf Design. Und auf elektronische Innovation. Mit dem Olivetti-Rechner P101, dem ersten frei programmierbaren Tischrechner weltweit, steuert die NASA den Funkverkehr der Apollo 11, die 1969 auf dem Mond landet.
Die Zeiten waren temporeich und sexy
Sie erblickt 1968 das Licht der Welt. 1967 kann das ursprünglich im Jahr 1740 im Rokokostil errichtete und 1936 abgebrannte Turiner Theater nach drei Jahrzehnten Unsicherheit, die auf das Unglück folgten, neu erstehen. Nach sechsjähriger Bauzeit wird es 1973 eingeweiht.
In der Zwischenzeit waren Männer auf dem Mond umherspaziert, die Geschlechter hatten sich sexuell befreit, und der Gran Torino hatte Fahrt aufgenommen. Die Zeiten waren temporeich und sexy. Theaterarchitekt Mollino hatte sein Turiner Meisterstück explizit kurvenreich gestaltet, formale Anspielungen an Eierstöcke oder Gebärmutter versteckt. Ihn inspirierte, so freuen sich anno 2025 zwei junge Frauen, die durchs Theater führen, der „Körper einer Frau“. Niemand hätte ihm Sexismus unterstellt.
Männerkörper umschloss seinerzeit der Gran Torino, zunächst im Einsatz mit den US-TV-Cops Starsky & Hutch. Später dann nannte Clint Eastwood – sich diesmal als Vierradfan behauptend – nach dem Auto einen Film von und mit sich selbst: anrührende Kinokunst mit Fokus aufs Arbeitermilieu.
Der Gran Torino freilich ist ein Ford-Modell und steht nicht etwa für großartiges Turin. Eastwoods gleichnamiger Film gilt Detroit. Genauer: dem Niedergang der Autoindustrie und damit dem Verfall der US-Stadt, die von jener so lange so gut gelebt hatte. Augenfällig sind die Parallelen zu Turin, das ein ähnliches Schicksal erlitt wie Detroit und mit diesem sogar konkurriert hatte.
Und stolz auf den Taurus ist, den römischen Stier, der im Namen der Stadt steckt. Ist Ivrea das römische Eporedia, so leitet sich der Name Turin allerdings von dem ligurisch-keltischen Stamm der Tauriner ab, während unklar ist, ob sich jener auf Stierkult oder Rinderzucht bezog. Fakt ist: Der römische Kaiser Augustus übernimmt ihn bei der Gründung der Colonia „Augusta Taurinorum“, aus der Turin entstand. Mollinos Theater trägt den Stier im Logo. Die turintypischen Toretti sind öffentliche Wasserspender in Gestalt von Stierköpfen.
Allerdings: Nicht zuletzt dank der Verbindung zu Gottvater Zeus, der sich in einen Bullen verwandeln konnte, passt das Rindvieh überall dort perfekt, wo es um Potenz geht: ob in der Mythologie, der Kunst, im Brandyglas – Spaniens prominentester Erzeuger Osborne wirbt im Zeichen des Stiers –, bei Red Bull, im Automarketing oder Sport. Grande Torino heißt Turins legendärer Fußballclub. Nach ihm wurde das Stadion für die Olympischen Spiele benannt.
Im Film „Gran Torino“ ist Eastwood alias Walt Kowalski ein (Ex-)Fordianer. Jetzt ist er alt und zänkisch, hütet seinen Stier auf vier Rädern wie seinen Augapfel und macht eine Transformation durch. Er entdeckt ein ganz neues Feld für sich: Fürsorge. Davon profitiert auch seine migrantische Nachbarschaft.
Der Kultfilm ist von 2008. Damals ging es auch in Turin – einst Sitz der weltweit größten Autoproduktion und Synonym für Fortbewegung im Zeichen von FIAT – nur noch in eine Richtung: bergab.
Nicht einmal ein volles Jahrhundert dauerte der Aufschwung durchs Auto. 1898 war FIAT gegründet worden. Sottsass war Ende der 1920er-Jahre nach Turin gekommen für eine steile Karriere. Andere mit ihm. Turin entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Industriestandorte der Welt, zur Arbeiterhochburg wie auch Designer- und Kulturstadt. Sie leistet Pionierarbeit auch für den Film, ist die Wiege des italienischen Kinos und beherbergt neben dem nationalen Automobilmuseum das Nationale Kinomuseum MAUTO sowie Camera, das italienische Zentrum für Fotografie.
1923 kommt die FIAT-Fabrik Lingotto in die Gänge. 1982 ist Schluss. Renzo Piano fährt vor. Sein Architekturbüro – zurzeit baut Piano das P&C-Kaufhaus an Frankfurts Zeil –, transformiert die Autofabrik in ein Kongresszentrum mit Läden sowie Hotels und beschert der Kunstsammlung des „Avvocato“ ein Museum: die Giovanni-und-Marella-Agnelli-Pinakothek. Indes: Das gesamte FIAT-Terrain ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine besorgniserregende Brache. Was damit anfangen?
Die Piemontmetropole erfindet sich neu
Die Piemontmetropole erfindet sich neu. Wie eine Naturgewalt war das FIAT-Finale über Turin gekommen. Ganze Stadtviertel wieder fit zu machen, leerstehende Industriebauten zu ertüchtigen, wird Bestreben vieler. Und es musste rasch etwas passieren, das ist der Politik klar.
Vor 20 Jahren drängten die Olympischen Winterspiele. Turin musste bella figura machen vor aller Welt. Das war ein Glück. Groß und wichtig zu erscheinen war eine ausfüllende Aufgabe. Alle wesentlichen Branchen liefen auf zur Höchstform: Industriedesign, Kunst, Film. Es entsteht eine kilometerlange urbane Achse, schlicht Spina centrale (Wirbelsäule) genannt, mit kapitaler Kunst im öffentlichen Raum. Das Zentrum für zeitgenössische Kunst der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo zieht als Hauptattraktion seit 2002 internationales Kunstpublikum in die Via Modane.
Wiedergeburt und Neubeginn: Industriegeschichte und ihre zeitgenössische Interpretation prägen Turin weiterhim. Aufsehenerregende neue Architektur belebt Quartiere, die sie ersehnen wie der Oleander Wasser.

Mit dem vor zwei Jahren bezogenen Regione Piemonte Tower entwarf Massimiliano Fuksas Turins höchstes Bauwerk und das dritthöchste italienweit. Vom oberen Stockwerk des Wolkenkratzers hat man freien Blick auf die Lingotto-Fabrik.
In eine Gegend, in die sie früher nicht gefunden haben, zieht Cino Zucchis avantgardistisches Bauwerk Nuvola Lavazza, Kaffeemuseum und Firmensitz zugleich, Besucher seit 2018. Zeitgenössische Kunst fördert sich das Museum Ettore Fico (MEF) in der Via Francesco Cigna ein.
Nicht nur die minimalistische lichtdurchflutete Architektur überzeugt. So beweist beispielsweise die aktuelle Einzelausstellung des wunderbaren Bildhauers Emanuele Becheri, dass man sich auch inhaltlich nicht im Pudding des Üblichen aalt in der Barriera de Milano. So heißt der Stadtteil: ein Arbeiter- und migrantisches Viertel: besonders gebeutelt. Früher – daher „Barriera“ (Schranke) -, wurden hier Zölle erhoben. Dann produzierte FIAT Flugzeugmotoren: Das Gelände ist verwaist, hier ist noch kein Erneuerer am Werk. Dafür verpasste der street artist Millo dem Quartier 13 monumentale Murals. Apropos Kunst: Was ist eigentlich mit den Arte Povera-Künstlern, die Turin kunstweltberühmt machten, just als Mollinos Theater neu eröffnete? Das Stadtmarketing arbeitet damit bemerkenswert wenig.
Essen, trinken, shoppen, beten
Zur selben Zeit, in den 1960er Jahren, schlossen im Barriera-Viertel die Docks Dora: Lagerhäuser von 1912 mit Gleisanschluss und einem Eingangsbereich wie für ein Filmstudio. Jetzt stählt auf dem Gelände das TechFitness-Studio schlaffe Büromenschen per Elektrostimulation und verkauft nebenbei nachhaltige Hosengürtel aus Autoreifen. Nebenan knüpft Haarstylist Marco Todaro in seinem Salon Casa Arpège – designt wie für Hollywoodklientel – mit der Produktlinie Arpège Opera marketingstrategisch an musikalische Harmonien an. Einrichtungsgegenstände haben den Look von Streichinstrumenten.
Sogwirkung hat der Store von RRD-Roberto Ricci Designs, ein Ankermieter in den Docks Dora. Da passt es, dass das Unternehmen des passionierten Wassersportlers im Rahmen von Riccis Firmenphilosophie Klassiker wie „Moby Dick“ und andere eigens edierte Literatur über das Meer verschenkt (!). Darauf muss man erst mal kommen, schon gar in Zeiten der Verachtung von Printerzeugnissen.
Turin ist für viele Überraschungen gut: Darauf ein Schlückchen Wermut und eine Zigarette – vielleicht in der Bar Affini im Ausgehviertel unweit des Bahnhofs. Hier treffen Gäste aus aller Welt Einheimische in urigem Ambiente jenseits der schicken Adressen. Der Barkeeper serviert einen selbst erfundenen Wermutcocktail zum einfallsreichen Verkostungsmenü.
Brunchen dagegen ist nirgends köstlicher als im Restaurant Combo in einer historischen Feuerwache mit Zugang zu einem originellen Hostel mit großen Innenhof für Parties. Da er an ein Parkhaus grenzt, kratzen keinen die Bässe. Der kleine Fiat 500 DolceVita passt auch in die Parklücke vor dem Combo.
Ganz verschwunden ist die Marke ja nicht aus ihrer Heimatstadt und die Feier des Automobils ebensowenig – ist auch der Salone dell’Automobile di Torino, im Jahr 1900 gestartet, lange schon Vergangenheit. Auf ihn zurück geht der neue Salone Auto Torino: Die dritte Ausgabe findet im September 2026 erneut als Open-Air-Show auf der Piazza Castello im Herzen Turins statt: Gratis darf dort jedermann neue Modelle Probe fahren. Weder als Kulturgut – und es ist schließlich eines der schönsten –, noch als Fortbewegungsmittel ist das Auto eben wegzudenken.
Reichlich Gas geben musste Turin indes, um sich Italiens Stadt mit den meisten Grünflächen nennen zu können. „Eine Hölle, die zum Paradies wurde“ heißt eine geführte Stadttour zum industriearchäologischen Erbe im Park Dora, Europas größten umgenutzten Industriegelände, wie gesagt wird. Nun ja. Die ehedem in der „Hölle“ beschäftigt waren, konnten Familien ernähren und sorgten durch die Produktion von Transportfahrzeugen dafür, dass auch andere satt wurden.
Heute ist das riesige ehemalige Industriegelände am Fluss Dora begrünt. Jogger drehen ihre Runden und Hundehalter, und wo noch Fabrikboden erhalten ist, skatet die Jugend. Von der Umwidmung und Aufwertung profitiert vor allem die migrantische Nachbarschaft.
Höhepunkt ist ein Gebäude, das de facto den Weg zum Paradies vorzeichnet. Zusammen mit Mario Botta kann man ihn in atemberaubenden Ambiente antreten. Der Stararchitekt schuf in dem Arbeiterviertel beziehungsreiche Architektur für das Seelenheil. 2006 wurde die von ihm entworfene Kirche des Heiligen Antlitzes eingeweiht. Die industrielle Prägung der Gegend kulminiert symbolisch im postmodernen Glockenturm: ein umgewidmeter Fabrikschlot.
Turin geht mit der Zeit. 100 Jahre nach der Gründung von FIAT nimmt Fuksas im Jahr 1998 die fünfgeschossige Markthalle Pala Fuksas in Angriff, nachdem der Vorgängerbau von 1963 abgerissen worden war. MyZeil entwarf Fuksas in Frankfurt. An der Frankfurter Oper würde gerne einmal Gianluca Capuano dirigieren, soeben am Turiner Theater engagiert für Mozarts „Entführung aus dem Serail“ Sein Management sei mit Frankfurt schon länger im Gespräch, verrät er.
UNESCO Creative City for Design
Im Jahr 2014 bekam die internationale Öffentlichkeit Kenntnis von den enormen Anstrengungen Turins, sich kreativ zu behauten. Sie wurden international gewürdigt. Seither schmückt der UNESCO-Titel Creative City for Design die Stadt.
Genau 100 Jahre zuvor wurde in Turins Theater „Francesca da Rimini“ uraufgeführt. Das Liebesdrama auf der Bühne riss die Menschen mit wie auch heute wieder: Turin brachte Francesca zurück auf den Spielplan in einer grandiosen Inszenierung. Herrschaftliche Gemächer öffnen sich für die unglücklich Liebende, und symbolistisch duftige Wiesen erstrecken sich über die ganze Breite der Bühne als wäre der Maler Segantini zum Bühnenbild konsultiert worden.
Mittendrin: Der Einäugige, der Hinkende und der Schöne. Sonnenklar, wen Francesca, die Dantes Göttliche Komödie unsterblich machte, am liebsten um sich hat in der verbotenen Heimlichkeit der Nacht. Denn, so ein Pech, angetraut ist sie nicht dem schönsten von drei Brüdern. Klar ist auch, dass ihr Ehemann vom Ehebruch erfährt. Der Rest ist Blutbad.
Das wiederum macht sich prima im Teatro Regio mit Mollinos blutroten Innenleben und den erotischen Tupfern im Design. Vaginaartiges lässt sich ausmachen, wenn man länger darüber nachdenkt. Gianluca Capuano steht danach freilich nicht der Sinn. Lässig unauffällig, quasi incognito, nimmt der Dirigent in Jeans und rotem Pulli beim Saisonstart neben dem Theaterintendanten Mathieu Jouvin Platz, der seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren das kriselnde Theater zu neuem Leben erweckt hat.
Capuano sieht „Fancesca da Rimini“ zum ersten Mal und ist entzückt von Regie wie Musik: „Da ist Richard Strauß drin und auch Wagner“, goutiert der Maestro. Und zu Jouvins Entscheidung für Francesca: „für den Saisonstart sehr mutig, auch viele Italiener kennen diese Oper ja gar nicht mehr.“ Applaus!
Als der letzte Vorhang gefallen ist und das Stiermosaik im Theaterfoyer für diesen Abend keine Stöckelschuhe mehr über sich ergehen lassen muss, formiert sich vor dem Theaterportal wie es landesüblich ist brav eine Warteschlange. Im Sekundentakt fahren Taxen vor. Danke, dass es Autos gibt.
(Dorothee Baer-Bogenschütz RheinMainKultur.de)
